Cyber-Bijou Nr. 8 (Juli 96)

Inhalt:

  1. Editorial
  2. Oswalt Kolle Nach beiden Seiten offen
  3. IBIS 96 Ein persönlicher Rückblick
  4. Zweimal werden wir noch wach.... Nächtliche Gedanken einer IBIS Mitmacherin
  5. Annäherung in der Familie
  6. Bi-Bliothek Neues im Bücherbrett


Editorial

Welch ein Erlebnis! Als ich 1994 an dem eintägigen Internationalen Bi-Kongreß in New York teilnahm, freute ich mich riesig über die vielen Frauen und Männer, die gekommen waren. Leider war ich der einzige De utsche und mußte ein wenig gegen ein Gefühl von Verlassenheit ankämpfen, welches aber durch die spannenden Diskussionen und aufregenden Begegnungen schnell zum Erliegen kam.

Und dann Berlin, Ende Mai 1996! Über 300 Bi's aus vielen Ländern, sogar aus den USA und Australien sind dabei - sogar eine Menge aus Hamburg, denen ich hier noch nie begegnet bin... Drei Tage lang Gespräche, Austausch, Miteinander. Zu me iner Schande muß ich gestehen: Mein Glaube, daß 'die paar Leute' in Berlin ein solches Ereignis auf die Beine gestellt kriegen, war noch vor einem Jahr nicht gerade groß. Es geschehen halt noch Wunder.

Damit auch jene, die nicht dabei sein konnten oder wollten, ein wenig von diesem Treffen mitbekommen können, drucken wir in dieser Ausgabe den Vortrag von Oswalt Kolle und zwei Erfahrungsberichte ab. Ergebnisse vorgestellter Untersuchungen folgen in späteren Heften.

Apropos 'die paar Leute': Auch Bijou wird von einem kleinen, aktiven Häuflein ZeitungsmacherInnen produziert. Im Oktober erreichen wir unser drittes Erscheinungsjahr. Dann müssen wir auch entscheiden, ob wir so weitermachen können, denn das Erscheinen hängt mehr oder weniger an zwei Personen. Was wird, wenn einer ausfällt? 'Nachwuchs' ist nötig, und wenn Du Spaß am Zeitungsmachen hast und schon Erfahrung im Schreiben, dann würden wir Dich gern im Kreis der Redak tion aufnehmen. Vielleicht bist Du schon bei unserem nächsten Redaktionstreffen im Herbst dabei?

 

Thomas

 

PS.: Wer Bijou sonst noch unterstützen will, kann dies durch eine Fördermitgliedschaft mit einem Beitrag in beliebiger Höhe tun. Sowas erleichtert unsere schlaflosen Nächte...

 


 Oswalt Kolle: « Nach beiden Seiten offen »

Wer kennt nicht Oswalt Kolle? Seine Bücher und Filme ("Das Wunder der Liebe", "Dein Mann - das unbekannte Wesen" usw.) sorgten in den 60er Jahren für Aufregung und Aufklärung. Einer der Väter der sexuellen Revolution in Deutschl and offenbarte sich nun als bisexuell lebend und hielt bei der Eröffnung zu IBIS '96 ein großartiges Plädoyer für Akzeptanz und Offenheit. Wir freuen uns über die Erlaubnis, die Rede abdrucken zu dürfen.

 

Meine Damen und Herren, liebe Freunde,

ich stelle mir gerne eine Gesellschaft vor, die mehrheitlich bisexuell orientiert ist. In dieser Gesellschaft wären dann sowohl Heterosexuelle wie Homosexuelle zu Abweichlern gestempelt. Im günstigsten Falle natürlich - nämlich im F alle einer toleranten Gesellschaft, die mehr oder weniger augenzwinkernd dem Treiben dieser Gruppe zusieht.

Im weniger günstigen Fall einer Gesellschaft, in der Intoleranz als normal und gesund gilt, würde das Bild anders aussehen. Ein Heer von Philosophen, Psychologen, Pädagogen, Ärzten, Kriminologen und Sexualwissenschaftlern würde sich auf diese Gruppen stürzen und sie unter das Brennglas der Forschung legen. Die Fragen drängen sich auf: Wie kommen Menschen dazu, eine so einseitige Wahl zu treffen? Ist es eine Krankheit? Spielen ihre Gene verrückt? Muß sich di e Gesellschaft vor ihnen schützen?

Werden sie unsere Jugend verführen, sie sexualethisch verwirren und auf den Irrweg der Heterosexualität leiten? Hat die Schule versagt, das Elternhaus? Ist vielleicht ein zu schwacher Vater und eine zu starke Mutter die Ursache? Oder umgekehr t? Inzwischen würden die ersten hochgelehrten Diskussionen über die ethische Frage auftauchen, ob es denn wohl erlaubt sei, genetisch minderwertige heterosexuelle Kinder abzutreiben, und Psychologen entwerfen Programme, um die armen Irren doch i n die Gesellschaft zu integrieren.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt würden die Heterosexuellen vermutlich die Waffen ausgraben und auf die Barrikaden steigen. Zu Recht.

Meine Damen und Herren, ich befinde mich gerade in der Endphase eines Buches über Bisexualität. In der Vorbereitung dieses Buches habe ich, ach, studiert: alles, was in den letzten hundert Jahren ueber dieses Thema geschrieben, gefaselt, gefo rscht, phantasiert, wiederholt, nachgeplappert und weggeworfen wurde. Zwei Dinge haben mich dabei erschreckt: nicht etwa, daß Wissenschaftler irren können und dürfen - das ist geradezu eine Voraussetzung für Wissenschaft. Nein, es war eine andere Tatsache: fast alle Wissenschaftler, mit ganz wenigen rühmlichen Ausnahmen, sind bei ihren Untersuchungen und Theorien davon ausgegangen: was die Mehrheit tut, ist wohlgetan, Minderheiten sind entweder unreif oder krank oder verbrecheris ch. Und die zweite bemerkenswerte Tatsache, die mir aufgefallen ist: die sogenannten primitiven Gesellschaften konnten und können mit dem Phänomen Bisexualität viel besser umgehen als unsere sogenannten zivilisierten Kultur-Gesellschaften, die so durchdrungen sind von ihrer Toleranz und Entwicklung.

Als junger Mensch hat mich schon fasziniert, mit welcher Selbstverständlichkeit die alten Griechen ihre paiderastia ausgeübt haben, dieses hochgeschätzte sexuelle und pädagogische Verhältnis zwischen älteren Männern u nd Jünglingen. Weder Medizin noch Gesetz noch etwa Religion sahen ein Problem darin: unberechenbar war der Gott Eros. Er weckte das Liebesverlangen nach seiner Willkür und legte darüber keine Rechenschaft ab. Jeder Mensch konnte für je den Menschen begehrenswert werden, gleich ob Mann oder Frau.

Und waren etwa die jungen Mädchen auf der Insel Lesbos später schlechtere Partnerinnen, schlechtere Mütter als andere Frauen, weil sie von der Dichterin Sappho in den Kult der Aphrodite eingeweiht waren - mit sinnlichen erotischen Spiele n zwischen den Mädchen? Sapphos Liebesgedichte feiern die Liebe zwischen den Frauen - aber manche Lyrik besingt auch die Liebe zwischen Mann und Frau...

Die moderne Anthropologie hat uns gezeigt, daß in vielen Gesellschaften die altersbedingte Homosexualität unter jungen Männern gefördert und gewünscht wird: beispielsweise bei den Sambia in Neu-Guinea, bei den japanischen Samu rai und bei vielen Stämmen im Südpazifik. Wenn wir nichts davon lernen, dann doch auf jeden Fall, daß offenbar alle diese jungen Männer in der Lage sind, mit beiden Geschlechtern befriedigende sexuelle Beziehungen zu erleben - also bi sexuell sind. Wegen all dieser Erkenntnisse meine bohrende Frage an die Wissenschaft: weshalb wird das Phänomen Bisexualität nicht einfach als das akzeptiert, was es ist, weshalb werden männliche Bisexuelle als eigentlich Homosexuelle abges tempelt und weibliche Homosexuelle als eigentlich Heterosexuelle? Wie kommt ein Sexualforscher wie Volkmar Sigusch dazu, dies zu behaupten: "Ich habe jahrelang vergeblich psychostrukturelle, also echte Bisexuelle gesucht. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß es sie nicht gibt."

Mich hat er nicht gefragt. Ich bin nämlich in der glücklichen Lage, nicht nur bisexuell zu empfinden, sondern auch noch Linkshänder zu sein. Und das ist in einer rechtshändigen Gesellschaft genauso verdächtig wie es manchmal sc hwierig ist, in einer heterofixierten Gesellschaft bisexuell zu empfinden. Als Linkshänder habe ich auch lernen müssen, den ganzen Humbug über Bord zu werfen, der mir Neurosen, verfrühten Tod, ein falsches genetisches Strickmuster oder verdrehte Hirnwindungen andichten wollte. Ich habe sehr früh begriffen, daß die rechtshändige Gesellschaft mich krank machen würde, wenn ich mich nicht so akzeptieren konnte, wie ich bin.

Als bisexuell lebender Mensch ging es mir genauso. Mich gruselt, wenn ich den Titel einer jüngst erschienenen Schrift über Bisexualität lese: "Doppelte Sehnsucht, doppelte Scham". Wieso verdammt noch mal Scham? Muß ich mi ch schämen, weil ich nicht heterosexuell bin? Weil ich mich nicht in ein bestimmtes Geschlecht, sondern in Menschen verliebe, ohne Ansehen der Person? Weil ich mich angeblich nicht entscheiden kann? Wer will mich denn dazu zwingen, mich zu entscheide n, mit welchem Recht?

Und in diesem Zusammenhang möchte ich meine größte Enttäuschung formulieren: ich und mit mir viele andere haben die letzten 30 Jahre für sexuelle Freiheit gekämpft. Wir haben immer gesagt: die Freiheit und die Toleranz ei ner Gesellschaft beweist sich bei ihrem Umgang mit Minderheiten wie Homosexuellen und Lesben. Wir haben alle miteinander viel erreicht. Aber daß nun ausgerechnet die Homosexuellen und die Lesben uns Bisexuelle für sich beschlagnahmen wollen und uns auch das Recht auf freie Wahl absprechen wollen - das empfinde ich als Skandal.

Und doch müssen wir aufhören, Bisexualität zunächst als Problem zu sehen. Es ist eine Freude, so offen für beide Geschlechter zu sein. Es ist eine Bereicherung, um die wir uns beneiden lassen sollten. Und keiner hat das sch&oum l;ner ausgedrückt als Thomas Mann, der 1942 in den Tagebüchern des Jahres 1927 liest, dem Jahr, als er mit dem 17jährigen Klaus Heuser auf der Insel Sylt ein zärtliches Verhältnis hat. Jetzt ruft er die süße Erinnerung hervor. Er schreibt: "Damals war ich ein glücklicher Liebhaber. Das Schönste und Rührendste der Abschied in München, als ich zum ersten Mal den Sprung in das Traumhafte tat und seine Wange gegen meine Wange legte. Nun ja, gelebt u nd geliebt. Schwarze Augen, die Tränen für mich vergossen, geliebte Lippen, die ich küßte - es war da, auch ich habe es erlebt, ich kann es zu mir selber sagen, wenn ich sterbe ..."

Ich wünsche Ihnen allen, daß Sie einmal sagen können: ich habe gelebt und geliebt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 

 

Einige Anmerkungen

von Th. Grossmann

 

Ich empfinde es als eine große Ehre, daß Oswalt Kolle nach Berlin gekommen ist und einen der Eröffnungsvorträge zum ‘Internationalen Bisexuellen Symposium’ gehalten hat. Oswalt Kolle hat mit seinen Kolumnen, Filmen und Bücher n wesentlich den Aufklärungsprozeß Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre in der Bundesrepublik geprägt. Es ist ein schönes Gefühl, wenn jemand wie er sich nun so demonstrativ in die Reihen der bisexuellen Frauen und Männer ge sellt.

Sein Vortrag wurde mit großer Begeisterung und Zustimmung aufgenommen, und ich freue mich besonders, daß Kolle uns erlaubte, diesen in Bijou abzudrucken. Dennoch - beim Abschreiben spürte ich an einigen Stellen das Bedürfnis, das Gesagte nicht einfach so stehen zu lassen, sondern in eine Diskussion einzusteigen. Vielleicht ist das auch jetzt noch möglich, hier im Heft. Ich möchte deshalb ein oder zwei Punkte erwähnen, die meinen Widerspruch hervorrufen und von denen ich fürchte, daß ein falscher Eindruck entsteht.

Volkmar Sigusch - übrigens einziger Lehrstuhlinhaber für Sexualwissenschaft in Deutschland - hat in der ZEIT Nr.8 vom 18.Februar 1983 sehr eindringlich davor gewarnt, sexuelles Verhalten ‘primitiver Gesellschaften’ als "Gegenbild" z u bewundern: "Als wir uns und anderen die Hölle bereiteten, entdeckten wir ozeanische Paradiese". Er betont: "Der Mensch ist von Natur gesellschaftlich und folglich sein Trieb- und Geschlechtsleben auch." Ob man also davon spreche n kann, daß die alten Griechen oder die Sambia in Papua-Neuguinea ‘bisexuell’ gelebt haben, wage ich zu bezweifeln. Zumindest ist es mit unserer gesellschaftlichen Situation kaum zu vergleichen. Ein griechischer Mann z.B. achtete Frauen so gering, d aß sie nur als Mutter seiner Kinder infrage kamen (Hetären ausgenommen). Wollte er einen geistig ebenbürtigen Menschen lieben, mußte er sich einem Knaben oder Jüngling zuwenden. Ausschließlich homosexuelle Männer ware n verachtet. Sooo tolerant waren die Griechen auch wieder nicht. Bei den Sambia wurden Jungen etwa ab 7 Jahren gezwungen, ältere Jungen oral zu befriedigen, bis sie selbst das Alter erreichen, in dem Sie diejenigen sind, die von Jüngeren ‘bedien t’ werden (Baldwin, J.+J.: The socialization of homosexuality and heterosexuality in a non-Western society, Archives of Sexual Behavior 18 (1), 1989). Mit Mädchen oder Frauen durften sie keinen Kontakt haben in dieser Zeit. Schließlich wurden s ie verheiratet und mußten von da ab ausschließlich heterosexuell verkehren.

All dies hat mit dem Leben heutiger Bisexueller wenig gemein. Es zeigt nur, wie vielfältig und wohl auch formbar Sexualität bzw. sexuelles Verhalten ist. Wie wir heute Bisexualität leben können, müssen wir selbst herausfinden.

Noch ein weiterer Punkt: Oswald Kolle beklagt mangelnde Solidarität auf Seiten der Schwulen und Lesben. Daran ist viel Wahres. Etliche schwule Männer und lesbische Frauen haben keine oder schlechte Erfahrungen mit bisexuellen Männern und Frauen. Sie verwechseln deshalb bisexuelle Beziehungen mit dem, was Sie selbst zum Teil vor oder während ihres Coming Outs gelebt haben: Bisexualität aus Angst vor dem Homosexuell-Sein. Ich selbst habe bis vor einiger Zeit bisexuelle Männe r nur als solche erlebt, die auf kurzen Sex aus waren und die dann schnell zu Frau und Kindern zurückkehrten.

Solange Bisexuelle nicht offen und ehrlich ihre sexuellen Beziehungen leben, sind Irrtümer und Vorurteile in der Bevölkerung (und auch den Homosexuellen) wenig verwunderlich. Es ist an uns, zu demonstrieren, daß die anderen Unrecht habe n. Volkmar Sigusch immerhin hat dazugelernt. Wie der SPIEGEL in seiner Titel-Geschichte vom Februar 96 verkündete, hat er sich von seiner früheren Ansicht, die Kolle zitiert, distanziert: "Bisex, sagt er nun, habe sich zu einer neuen ‘kultu rellen Sexualform’ entwickelt". Wer sagt’s denn...

 


IBIS ’96 - ein persönlicher Rückblick

von David Drinkwater, Minnesota/USA

 

So kurz nach einem großen Kongreß ist die Neigung, erst einmal abzuschlaffen, bei vielen groß. Man/frau ist froh, alles gut überstanden und eine große Sache zustandegebracht zu haben - und das haben die VeranstalterInnen fürwahr! Sich nun gleich hinsetzen, um etwas darüber zu schreiben, kann nicht jeder. Glücklicherweise gibt es David, einen Teilnehmer aus den USA, der jetzt schon Auskunft geben kann darüber, was und wie er IBIS 96 erlebt hat. Wir dru cken aus Platzmangel den Text in zwei aufeinanderfolgenden Heften.

 

IBIS '96 war für mich ein äußerst intensives Experiment. Es begann für meinen Geschmack ein wenig schwerfällig am Freitagabend, aber nachdem das richtige Programm am Samstag startete, erwarteten mich zwei Tage voller aufregen der Inhalte.

Der erste Workshop, an dem ich Samstag teilnahm, war großartig. Es war ein rein deutschsprachiger Vortrag über "Strukturen (bi-)sexueller Beziehungen" (eine der wenigen Veranstaltungen, bei denen ich nicht dolmetschen mußte, was ich sehr genoß). Genau gesagt ging es nicht speziell um Bi’s, sondern um Dreier-Beziehungen. Das einfache Modell, welches Jürgen Höhn vorstellte, basiert auf zwei Typen von Menschen: solchen, die wirklich enge und nahe Beziehungen, und solchen, die eher sinnliche und weniger enge Beziehungen suchen. Er nannte sie K- bzw. S-Typen, und Jürgen beschrieb die möglichen Veränderungen solcher Beziehungen unter dem Aspekt, "was passiert, wenn in einer Zwei-Personen-Beziehun g eine dritte dazukommt, wie verhalten sich die beiden Typen".

Er benutzte Pfeile, um das Fließen innerer Gefühlsenergien darzustellen und Kreise für die Paarbildungen. Es sah ein wenig wie organische Chemie aus und die dort stattfindenden Reaktionen, was ich eine amüsante Analogie finde. Ich hielt das Ganze für einen hilfreichen Weg, meine eigenen Beziehungen zu betrachten, auch wenn es ein recht intellektueller Workshop war.

Mein nächster spannender Workshop am Samstag war der von Lynn Dobbs und Jan Hansen über ‘Polyamory’, was soviel bedeutet wie ‘Mehrfach-Liebe’. Der deutsche Titel war: "Sind unsere Beziehungen "beliebig"? Ich fragte nach Lynn: "Wie sieht sie aus?" Der Hinweis auf einen Bart machte mir klar, daß es sich wohl um einen Mann handeln muß. Ähnlich ging es vielen deutschen TeilnehmerInnen, die vermuteten, Jan Hansen wäre ein deutscher Mann - nicht eine amerikanische Frau!

In diesem Workshop dolmetschte ich. Obwohl nicht so arg viel zu tun war, weil Lynn seinen Vortrag schön langsam hielt, war es ziemlich stressig für mich, den neuen Begriff ‘Polyamory’ ins Deutsche zu übertragen. Und es schockte mich, als eine der deutschen Teilnehmerinnen mich aufforderte, nicht weiter den Vortrag zu unterbrechen. Ich saß da, verletzt und voll Sehnsucht nach Anerkennung für die Arbeit, die ich mir mit dem Übersetzen machte. Gleichzeitig war ich überw ältigt von der starken Energie, die Lynn bei seinem Vortrag ausstrahlte. Oft fehlten mir die Worte, um alles richtig zu übersetzen, so sehr war ich gefangen von diesen wechselnden Gefühlen - obwohl ich innen drin stets genau verstand, was e r meinte.

Mehr noch trafen mich manche Inhalte des Workshops. Zum Beispiel die Idee der Begrenztheit (von Liebe, speziell in Mehrfach-Beziehungen). Dies traf mich besonders hart, weil ich gerade dies in den letzten 1 ½ Jahren während meiner Zeit in Göt tingen besonders häufig gespürt habe - und auch jetzt, wo ich nach Minnesota gegangen bin und den Großteil meiner Zeit mit leblosem Maschinenbau verbringe. Ein weiterer Hammer war die Frage: "Wie fühle ich mich geliebt?". Da s bezog sich auf all die besonderen Dinge, die Menschen tun können, damit Du irgendetwas fühlst, was speziell dann wichtig ist, wenn Du nicht von ganzem Herzen sagen kannst: "Ich werde Dich bis ans Ende meiner Tage lieben!" bzw. was au ch immer unsere monogame Gesellschaft an wunderschönen Beziehungsklischees anzubieten hat.

Für mich persönlich ist eines der Dinge, die mich glauben läßt, geliebt zu werden, wenn ich in der Lage bin, wie ein kleines Kind in den Armen von jemandem zu heulen. Und exakt dies hätte ich mitten im Workshop liebend gern ge tan... Ich riß mich aber zusammen, nicht ohne wahrzunehmen, wie solche ‘Rückhalte-Mechanismen’ mich regelmäßig in schreckliche Konfusion bringen.

Als ich nach dem Workshop mit Andrea redete, der Frau, die meine Unterbrechungen kritisiert hatte, wurde mir einiges klar darüber, wie ich selbst mich oftmals verletze. Der Workshop an sich löste bei mir zudem ein enormes Ehrfurchtsgefüh l aus für die Liebe, die in ‘Mehrfach-Beziehungen’ fließen kann, - und wie unzureichend Worte oft sind, um diese Liebe zu beschreiben, egal, wie gut Du mit Worten umgehen kannst.

Nach dem Workshop war ich absolut müde und hungrig, also schlenderte ich mit Andrea davon, um etwas zu essen, und anschließend zur Samstag-Nacht Bi-Disco, wo wir als Gruppe den Laden fast für uns alleine hatten. Das Essen war super und füllte mich ab bis zum Rand; zugleich gab es mir die Chance zu erkennen, welch wundervolle Person Andrea ist. In gewisser Weise muß ich also dankbar sein dafür, daß unsere Kommunikation während des Workshops so schief lief, sons t hätte ich sie wohl nie kennengelernt.

 

Der zweite Teil folgt in Heft 9

 


 

Zweimal werden wir noch wach....

Nächtliche Gedanken einer IBIS-"Mitmacherin"

 

Es ist Mittwoch, 2.15 Uhr, also eigentlich schon Donnerstag, und ich kann nicht schlafen. Ich weiß, daß ich in weniger als 4 Std. wieder aufstehen muß, aber ich komme nicht zur Ruhe, weil mir 2 Mio Dinge im Kopf herum schwirren. Das g eht mir nun schon seit fast 1 1/2 Std. so und da ich alles erledigt habe, was ich sonst noch machen könnte (z.B. aufräumen, Geschirr spülen...) und alternativ nur noch eine Bügelaktion anstehen würde, habe ich mich also entschloss en zu schreiben - vielleicht hilfts!?

Jetzt fragt Ihr Euch sicher, was mich so auf Trab hält, oder? Nun, kurz gesagt: ich bin eine der OrganisatorInnen von IBIS´96 und der große Tag rückt immer näher, und näher, und näher... Wenn ich daran denke, wie alles an gefangen hat; so ruhig und gemächlich, z.B. als Benno und ich Tagungsräume besichtigt und Gästehäuser gesucht haben...

Gute 1 1/2 Jahre ist das jetzt her und ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wie ich bei IBIS gelandet bin. Ich glaube durch einen Kaffee-Klatsch bei Jürgen; oder war das das Organisationstreffen für ein BiNe-Wochenende? Na, ist ja au ch egal. Jedenfalls haben wir (Jürgen, Robin, Benno, Anne und ich ) uns alle 4 Wochen bei Kaffee, Tee und Knoblauchbaguette zusammen gesetzt und hatten noch soooo viel Zeit...

Nach ca. einem halben Jahr habe ich mich dann für einige Sitzungen ausgeklinkt, weil meine Prüfung zur Industriekauffrau anstand. In dieser Zeit verließen uns Anne und Benno (wegen Umzuges), dafür kamen Christine, Karin, Peter und Gerhard hinzu. Außerdem beehrte uns Bruno mit seiner destruktiv-künstlerischen Anwesenheit und dann gab es auch noch Uwe, der irgendwann von der Bildfläche verschwand. Und der Termin rückte immer näher, und näher, und nä ;her...

Ja, und dann hatten wir auch ab und zu Gäste, wie z.B. von t.a.n.g.o., die uns einige Tips gaben, aber es waren auch mehr als genug wahnsinnig motivierte, einsatzfreudige Mitmenschen da, die uns 1 bis 2 mal mit Ihrer Gegenwart beglückten, um sich dann nie wieder sehen zu lassen... Im September ´95 fand dann Hilke zu unserem Grüppchen, mit im Schlepptau Frank (die beiden haben übrigen die Techno-Fete inkl. After-Hour organisiert). Während unser unausgesprochenes Motto "lear ning by doing" eigentlich noch bis heute gilt (oder soll ich sagen "Montag", wenn alles vorbei ist!?), haben unsere strengen Sitten, was die Anwesenheit anbelangt doch stark nachgelassen (Anne hatte einmal verschusselt, daß wir uns be i ihr treffen wollten und mußte dafür kochen...), was unsere Tatkraft aber natürlich nicht eingeschränkt hat.

Tja, und so qüälten wir uns also mit der Raumsuche, der Genehmigung von ABM-Stellen, Sponsoren und den Referenten herum, UND ES HAT TROTZDEM SPASS GEMACHT, auch wenn Räume doppelt (an uns und andere) vermietet und ABM-Stellen gestrichen wurden, Sponsoren kein Geld gaben oder Referenten kurz vor dem Symposium ihre Themen änderten. Auch die Tatsache, daß die FU vergessen hatte uns mitzuteilen, daß 900 Studenten am Samstag im Hörsaal Klausuren schreiben und so Kleinigk eiten, wie der fehlende "Vorführerschein" für die Landesbildstelle haben uns nicht aus der Fassung gebracht. (Oder etwa doch, Jürgen!?) Und da war doch noch was mit nicht eingereichten Bescheinigungen für die ermäß igten Eintrittskarten oder klitzekleine Schwierigkeiten mit der sonst so gut funktionierenden Bettenbörse. Aber zu diesem Thema weiß Peter mehr zu sagen (vielleicht ist es aber auch besser ihn nicht darauf anzusprechen...)

Und sonst? Gerhard und Robin haben sich fleißig um die Referenten gekümmert und das E-Mail betreut. Karin und ihrem Draht zu einer großen Erfrischungsgetränkefirma, deren Namen ich nicht nennen möchte, haben wir die Geträ ;nke und vor allem das schöne Vorwort zu verdanken. Die Idee mit den Bildern ist auf meinem Mist gewachsen.

Zwar hatte ich den Einfall schon 1 1/2 Wochen vorher, aber die Durchführung fand kurz vor knapp, in der Nacht von vorgestern auf gestern, im Anschluß an eine nervenaufreibende letzte Sitzung. Nun gut, jetzt bring ich´s aber trotzdem noch zu Ende: Leider haben wir unterwegs Hilke und Frank verloren, die den Heimweg nach Potsdam antreten mußten und Christine konnte sich auch nicht persönlich mit Bild verewigen, da sie aus privaten Gründen verhindert war. Ja und ich? Abgesehen von meinem Listen-Fimmel (für den Hilke sich so begeistern kann) war ich ganz objektiv gesehen für die "Klein-Sponsoren" zuständig, die nichts gespendet haben....

Hätten wir noch Zeit gehabt, hätten wir zu gerne noch eine kleine Aufstellung gemacht, wen wir eigentlich gesponsort haben, wie z.B. die FU, die allein für die Techniker, Hausmeister und Infostellwände eine 4stellige Summe fo rderte, die Telekom (vielleicht wären Standleitungen doch billiger gewesen!?), den Ferrero Konzern, der uns mit einem schokoladen-nicht-unähnlichen Produkt kräftig unterstützte (ohne es zu wissen, versteht sich) u.v.m.

Zwar haben die Sponsoren nichts gebracht, aber ich hoffe Euch hat wenigstens die Tagungsmappe etwas gebracht, die in Christines und meinen Händen lag. Uns hat es jedenfalls irrsinnig Spaß gemacht, oder sollte ich besser sagen: uns hat der Sp aß irrsinnig gemacht? - Nun, das müßt Ihr entscheiden... 3.37 Uhr. Entweder habe ich jetzt alles gesagt (was bestimmt nicht der Fall ist) oder die fortgeschrittene Stunde fordert ihren Tribut. Aber was soll´s? Ich habe ja noch ganze 2 St unden und 23 Minuten bis mein Wecker klingelt... Vielleicht ist es mir ja nicht nur gelungen, müde zu werden, sondern auch, Euch einen kleinen Einblick in die Freuden und Leiden von 9 kleinen Organisatoren und Organisatorinnen zu geben, die bis zum ( bitteren?) Ende durchgehalten haben. In der Hoffnung, daß Ihr beim Lesen nicht das getan habt, was ich jetzt tue - nämlich einschlafen...

 

Bis bald

SaBiNe

 


Annäherungen in der Familie

von Johann Bruns-Potthoff

 

Es lag kein Entwurf für eine Familie vor. Ich hatte mich entschieden, in einer Familie zu leben.

So traf ich sie, unverhofft, unerwartet, wie ich es mir insgeheim immer gewünscht hatte. Blicke, die unter die Haut gehen, düfte, die ineinander verliebt machen, gespräche, die vertraut machen, berührungen, die aufeinander lust mach en.

Ich wollte keine feste bindung eingehen, aus meinungen heraus. So sicherten sie und ich mich erst einmal ab. Eventualitäten deuteten sich an: Jeder lebt auch sein eigenes Leben, wir sehen uns, wenn wir es wirklich wollen und wir sehen uns täg lich und stündlich öfters.

Dem Eventuellen steht das Reale gegenüber. Ich begehre Männer leidenschaftlich, ich liebe dich, jeder lebt doch noch sein eigenes leben, ich möchte dich fast täglich sehen.

Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie das mit Männern war, damals, als viele sonnentage sie und mich immer mehr banden. Manchmal lag ein wenig Furcht in der Luft.

Wie oft habe ich ja gesagt, als wir zu dritt waren. Jetzt meine Frau, mein Sohn und ich. Ich vergesse nie das Gefühl von Erleichterung und Entschiedenheit.

Die Zukunft braucht jetzt einen Plan. Der Alltag hüllt mich ein mit neuen Eindrücken, die meine Frau und ich mit unserem Sohn haben, auch mit Sorgen. Ich halte mich für eine Liebe mit einem Mann frei.

Unvermittelt treffen sich unsere Blicke und ich spüre sofort, daß er es ist. Ich kann ihn kaum loslassen, wenn ich bei ihm bin. Ich genieße es, wenn er mich mit seinen Blicken verschlingt.

 

Verabredungen halten unsere Beziehungen aufrecht, Offenheit ist erwünscht, Sehnsüchte und Wünsche nach Bindung nehmen zu. Unterschiede werden offenbar: Ich gerate aus meinen familiären Bindungen in eine Partnerschaft, in der Bindung fast täglich zur Disposition stehen kann.

Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich Zerrissenheit. Wir sind jetzt zu viert, meine Tochter sieht mich fast zu selten, Wochenenden sind verplant. Ich fühle mich wie ein Reisender in Sachen Liebe zu ihm, meinen Kindern und meiner Frau.

Leidenschaft kann mich für Stunden entreißen. Ich fühle mich für meine Familie verantwortlich. Beziehung zu ihm soll aus purer Liebe bestehen.

Ich knicke meine Illusionen ab.

 

Es dauert eine Weile, bis ich sie wieder spüre. Sie sind mir ein kleines Stückchen fremd geworden. Als ich sie wiedererkenne, bin ich wie erstaunt: So sind sie. Wie glücklich sie mich machen, sie spiegeln mich wieder. Sie lieben mich, st ehen zu mir, ich stehe nicht zur Disposition.

Im Mainstream der Familien. Der Sog nach Existenzsicherung. Kleine Alltagssorgen beanspruchen in ihrer Summe viel Zeit. Erschöpfung sucht nach Erholung.

Familie kann nicht aus purer Liebe stehen. Unsere Entwicklungen brauchen gute Beobachtung und behutsame Annährungen. Meine Kinder, meine Frau und ich leben zusammen, wenn wir uns als Individuen wahrnehmen, sonst würden wir nur für Beruf, Schule und andere funktionieren.

Nach all den Jahren Annäherung auch an das Fremde in uns beginne ich eine zaghafte Reise zurück zu dem Punkt, an dem ich meine Illusionen abknickte. Die Liebe zum Mann kann nicht nur aus Leidenschaft bestehen, einen Teil meiner Gefühle e rreichen und den anderen Teil meiner Familie überlassen.

Etwas hat mich verlassen. Ersatz ist mit Ritualen, die mir fremd sind, vielleicht greifbar. Er war so, wie ich ihn mir insgeheim immer gewünscht hatte.

Ist bisexuell eine frage des time-managements. ehemann, familienvater, berufler, freund, bekannter. Das normative bestimmt mich mehr, als ich mir je vorstellte. Andere waren nicht so wie er.

Ich habe versucht, die Entwicklung in meiner Familie zu beschreiben, auszudrücken, wie es mir in den verschiedenen Phasen ging und anzudeuten, wie ich mich zur Zeit im Zusammenhang mit meiner Familie erlebe. Dabei habe ich gespürt, wie schwer es ist, etwas von der eigenen Familie zu schreiben, weil so viele nahe Gefühle damit verbunden sind. Trotzdem möchte ich an dich appellieren, in "bijou" etwas über dich und deine Familie zu schreiben, in welcher Form auch immer. Ich bin gerne bereit, dich durch ein Interview/Gespräch zu unterstützen und deinen Beitrag mit dir zusammen schriftlich zu verfassen. Wenn du Interesse hast, ruf mich an oder schreib mir: Hans Bruns-Potthoff Tel.: 05203/6864 Osningstr. 21 33824 Werther

 


 

Bi-Bliothek: Neues im Bücherbrett

Seit Jahren schon beglückt der Argument-Verlag seine LeserInnen mit ebenso spannenden wie oft höchst amüsanten Krimis, in denen Frauen die Hauptrolle spielen. Allerdings keine ollen Schrullen wie Agatha Christies Miss Marple, sondern mutige, engagierte und am Leben interessierte Frauen - als Gegengewicht zu den vielen männlichen Krimi-Helden. Manche lesbisch, andere bi oder gar absolut hetero.

Aus dem Programm des Verlages möchten wir Euch einige Bücher vorstellen. Trotz der Einleitung ich beginne heute mit drei Krimis aus demselben Verlag, die einen schwulen Mann als zentrale Figur haben. Das hat einfach damit zu tun, daß ic h diese Romane bereits gelesen habe und sie Euch vorstellen möchte, während die vier neuen Frauen-Krimis brandaktuell auf meinem Nachttisch harren, um demnächst verschlungen zu werden.

 

Der Titel klingt enorm harmlos: "In einer Stadt so nett". Bloß geht es um eine Menge ganz und gar nicht netter Dinge: Sexueller Mißbrauch, Verleumdung, ständig besoffene Ehefrauen, Beweisfälschung. Mittendrin der schwule An walt Henry Rios, dem angetragen wird, einen stadtbekannten Pädophilen zu verteidigen.

Wenn trotz der Begleitumstände, die manche Leser bestimmt höchst ungern und nur mit spitzen Fingern überhaupt anpacken, ein beeindruckender Krimi und ein lebendiges Stück gesellschaftlicher Realität dabei rauskommt, ist das den literarischen Qualitäten von Michael Nava geschuldet. Nava ist selbst Anwalt und lebt in Los Angeles. Sein 'Held' ist so gar keiner, Henry Rios schlägt sich immer noch mit seiner überwundenen Alkoholabhängigkeit herum und krieg t als Chicano regelmäßig auf's Butterbrot geschmiert, daß im ach so freien Amerika eine spanische Herkunft nicht gerade adelt.

Hier offenbart sich die Tendenz, die alle Krimis von Argument durchzieht. Die Bücher sollen spannend sein und unterhalten, aber sie sollen nicht so tun, als ob es Rassenschranken, gesellschaftliche Vorurteile und Diskriminierung nicht gäbe. Endlich verlieren Krimis ihre Unschuld, endlich darf eine lesbische Detektivin durchaus realistische Kämpfe mit Homo-Hassern ausfechten. Und endlich darf ein schwuler Anwalt gegen Ungerechtigkeit und Bigotterie angehen. Wie wunderschön, wenn er am Ende auch noch gewinnt!

Sein Schwulsein ist nicht bloß Feigenblatt zwecks Gewinnung neuer Käuferschichten, sondern integraler Bestandteil der Handlung. Rios verliebt sich, lebt mit seinem Freund Josh zusammen, und natürlich ist in einem Roman der späten 80er auch AIDS ein Thema.

Schwulsein ist jedoch nicht der zentrale Inhalt der Bücher, es sind Krimis mit schwulen und anderen Hauptpersonen, die - wie sollte es anders sein - z.T. auch wegen ihrer Homosexualität in der Klemme stecken. Wie etwa der junge Hilfske llner Jim Pears in "Goldjunge". Er soll einen Kollegen getötet haben. Motiv: Dieser hatte gedroht, ihn zu outen. Nur widerwillig und von der Unschuld seines Mandanten keinswegs überzeugt, müht sich Rios ab, die Wahrheit herauszufinde n. Ähnlich sieht es aus im Fall seines Ex-Mandanten Hugh Paris, der befürchtet, sein Großvater wolle ihn umbringen lassen ("Der kleine Tod").

Die Fälle haben etwas von 'David gegen Goliath', und es tut der Seele gut, wenn am Ende Henry Rios nicht nur glücklich in die Kissen neben seinem Lover sinkt, sondern die Gerechtigkeit gesiegt hat. Er begnügt sich so gar nicht mit den &u uml;blichen Aufgaben eines Verteidigers, er ist engagiert und mutig, auch wenn er dadurch so manches Mal wie ein Privatdetektiv wirkt.

Alle drei bislang erschienenen Romane zeichnen sich aus durch spannende, realitätsgerechte Stories mit einem Schuß melancholischem Humor. Keine holzschnittartigen Figuren, die wandlungsunfähig dem Krimileser bereits früh die Aufl&o uml;sung signalisieren, sondern Menschen voller Gier und Sehnsucht, voller Angst und Wut - genau die richtigen Ingredienzen für spannende Unterhaltung.

 

Michael Nava:

Der kleine Tod (2001, DM 15,-), Goldjunge (2003, DM 17,-), In einer Stadt so nett (2011, DM 17,-), Zweite Reihe/Argument-Verlag, Hamburg

 

"Der Mann, der sich in den Mond verliebte" ist ein Roman mit überschäumender Phantasie und mutigen Themen. Sein Name ist Shed oder Duivivhi-un-Dua, ein bisexueller Mestize, der gegen Ende des letzten Jahrhunderts in einem Bordell in Idaho aufwächst. Die gebieterische Ida Richelieu ist Shed's Arbeitgeberin, Bürgermeisterin der Stadt, Puffmutter und Besitzerin des schockierend rosa-farbenen Indian Head Hotels. Zusammen mit der wunderschönen Hure Alma Hatch und dem philosophie renden, grünäugigen, halbverrückten Cowboy Dellwood Barker bilden die eigenwilligen Individualisten Shed's Familie. Und obwohl diese Geschichte in die Häßlichkeit und Grausamkeit des wilden Westens eingebunden ist - Shed wird von dem gleichen Mann vergewaltigt, der die Frau umbringt, die Shed für seine Mutter hält, und die mormonischen Bürger der Stadt setzen Ida's rauhem Lebensstil ein feuriges Ende - ist die Liebe und Akzeptanz, die diese Familie zusammenhäl t, der wahre Kern dieser Geschichte.

"Der Mann, der sich in den Mond verliebte" ist ein wunderschönes Märchen, das auch tiefe Einblicke in Sexualität, Rasse und die Beziehung des Menschen zu sich selbst und der natürlichen Welt gewährt.

 

Vivian

 

Tom Spanbauer: Der Mann, der sich in den Mond verliebte, Goldmann Taschenbuch, DM 16,90