Cyber-Bijou Nr. 2 (Januar 95)
Inhalt:
Ein bißchen gezittert haben wir schon bei der Frage, wie die erste Ausgabe dieses Zeitungsprojektes wohl bei Euch ankommen mag. Inzwischen haben wir jedoch zahlreiche Anregungen und Rückmeldungen bekommen, die sehr er munternd waren und uns gezeigt haben, daß wir mit dieser «Publikation» den richtigen Nagel auf den Kopf getroffen haben. Es gibt sicher noch einiges zu verbessern, wobei manche Kritik nicht so einfach umzusetzen ist, sondern erst auf Dauer berü cksichtigt werden kann. Es wird schon werden...
Kurz nochmal zu Entstehung: Es gibt eine Redaktion, welche derzeit aus acht Leuten besteht (siehe Impressum). Dieser Kreis bearbeitet die einzelnen Zeitungsbeiträge, die dann nach München geschickt und dort zu einem Heft zusammengestellt wer den.
Es ist ein Kommunikationsforum sein, in dem alle zu Wort kommen, die etwas «Passendes» beizutragen haben. Erfahrungsgemäß machen sich eine Menge Leute politische und persönliche Gedanken, lachen über Situationen, haben ernste, heit ere, schwierige und wunderschöne Erlebnisse im Alltag ihres bisexuellen Lebens oder haben Zugang zu wichtigen Nachrichten - hier ist die Zeitung dafür! Im Impressum steht unsere Kontaktadresse; es wäre doch mal einen Versuch wert!?
Und damit auch alle auf den Geschmack kommen, ist diese Ausgabe nochmals kostenlos, was bedeutet, daß die Abonnements nun doch erst mit dem nächsten Heft beginnen.
Thomas und Heiner
Vermarktung oder Chance?
Kaum zu übersehen ist die drastische Zunahme von Veröffentlichungen aller Art zum Thema «Bisexualität» in den letzten Monaten. Sei es als Diskussionsstoff für diverse Talkshows oder als Aufmacher verschiedener Zeitschriften. Ebenfal ls in letzter Zeit greifen auch Kinofilme vermehrt dieses Thema auf.
Doch heißt diese öffentliche Präsenz gleich, daß auch das öffentliche Interesse an uns gestiegen ist? Wollen die Leute wirklich mehr über unsere Lebensweise, unsere Gefühle und Sehnsüchte erfahren? Oder wird h ier der Versuch unternommen, durch Darbietung von etwas Sensationellem und Exotischem die Einschaltquoten und Auflagen zu erhöhen?
Wie dem auch sei - wir Bisexuellen sind aufgefordert, zu reagieren, uns einzumischen, einen Beitrag zu leisten. Denn diese Veröffentlichungen wird es in jedem Fall geben - auch ohne Dich oder mich. Dann wird sich eben jemand anderes finden, die od er der uns «vertritt», und dies vielleicht in einer Art und Weise, mit der wir uns nicht identifizieren wollen. Oder es wird dann eher über uns geschrieben und gesendet, als daß wir Betroffenen selbst zu Wort kommen.
Zu Wort kommen heißt allerdings in vielen Medien keineswegs, in ihrem/seinem Anliegen umfassend und korrekt dargestellt zu werden. Vielmehr kommt oft erst bei der Veröffentlichung die große Überraschung darüber, wie Aussagen drastisch gekürzt, Schwerpunkte leichtfertig verlagert oder «Worte im Munde umgedreht» wurden. Besonders in den Printmedien scheint der redaktionelle Spielraum sehr groß und die Möglichkeit zur Einflußnahme auf das Endprodukt seitens der Interviewten eher gering. Dagegen kann man bei den TV-Shows zwar auch nicht sicher sein, in welch gekürzter Form sie gesendet werden, doch ist hier eine arg verdrehte Dargestellung nicht so leicht möglich. Ein Nebensatz kann zum Beispiel ni cht so einfach extrem in den Vordergrund geschoben werden.
Doch bei all der Gefahr, daß durch verzerrte Darstellung ein falsches Bild von bisexuellen Menschen entsteht, sehe ich dennoch eine große Chance für uns. Denn was all diese Artikel, Sendungen und Filme - egal ob gut oder schlecht - gem einsam haben, ist die Verbreitung des Wissens um eine Lebensart. Da wird eine für viele vollkommen neue Möglichkeit aufgezeigt. Und ich denke, diese gemeinsame «Message» aller Publikationen zur Bisexualität darf nicht zu gering eingesch&aum l;tzt werden. Selbst wenn diese «Möglichkeit» bisweilen als schlecht hingestellt wird, so wird zumindest auf ihre Existenz hingewiesen. Fördert also ein Beitrag eher ein schlechtes Image, so könnte er aber dennoch dem einen oder der anderen eine neue Identifikation ermöglichen.
Gerade wegen dieser Identifikation bestimmter LeserInnen und ZuschauerInnen mit der Thematik sollte in dem Zusammenhang möglichst auf die Gruppen und das Netzwerk hingewiesen. Überhaupt gilt es zu überlegen, welche Messages wir Bi´s verm itteln wollen. Gibt es aufgrund der enormen Vielfalt von unterschiedlichen Empfindungen und Lebensweisen überhaupt etwas Gemeinsames? Ja, vielleicht sollte gerade diese Vielfalt als Charakteristikum für bisexuelles Fühlen und Erleben hervor gehoben werden. Zudem ist es wichtig, falsche Vorstellungen und Vorurteile zu berichtigen; so zum Beispiel, daß dieses Empfinden nicht automatisch eine ständige Zerrissenheit und Unentschlossenheit bedeuten muß, andererseits aber auch nic ht zwangsläufig das schöne Leben mit der großen Auswahl ermöglicht.
Doch auf welchen Wegen können wir Einfluß darauf nehmen, wie das Bild von uns in der Öffentlichkeit geprägt wird?
Beispielsweise durch eine schriftliche Zusicherung, die Endfassung vor der Veröffentlichung einsehen zu können, besteht eine Möglichkeit, noch sicherer zu gehen, daß die Botschaften ankommen. Auch wenn unser Einfluß auf die D arstellung unserer selbst in den Medien beschränkt ist, bleibt uns doch eine gewisse Chance, auf diese Weise ein Stückchen das Bild davon, was es heißt, bi zu sein, mitzugestalten.
Manni
Vivian hat's gelesen: Das Buch "Doppelte Lust" von Sina-Aline Geißler
Im Stiefel, neulich an Nikolaus, eine feudige Überraschung: ein neues Buch über Bisexualität. Also mach ich's mir gemütlich mit einem Pot Kaffee und ein paar Weihnachtsplätzchen.
Im Vorwort erzählt die Autorin, wie sie durch die Recherche zu dem Buch auf ihre eigenene Gefühle zu Frauen gestoßen ist und ihr erstes sexuelles Erlebnis mit einer Frau hat. Prima, denke ich und lese weiter über das Vorkommen, Ver ständnis und Diskriminierung von Bisexualität in der Gesellschaft und über die bologisch-soziologisch-historische Verankerung der Bisexualität in derselben. Ganz nach dem Motto: Bestimmte Anlagen sind sowieso von Mutter Natur gegeben, das soziale Umfeld tut sein Übriges und außerdem sind Bi's Menschen wie du und ich.
Dabei sieht sie Bisexualtät als Tabu in unserer Gesellschaft wie "Inzest, generell Kindersex oder Sodomie". Dann folgt ein Kapitel mit Interviews, welche Sina-Aline Geißler mit Frauen und Männern geführt hat, die von ihren Neigunge n berichten, wie es dazu kam und welche Probleme dabei auftauchten. Sehr vielfältig und somit sehr bezeichnend.
Danach beschäftigt sich die Autorin mit dem Thema AIDS, aber nur in Verbindung mit bisexuellen Männern. Gibt es keine AIDS-Problematik bezüglich bisexueller Frauen???
Im nächsten Kapitel zitiert sie mehrere Frauen zum Thema weibliche Sexualität und zeigt Unterschiede zur männlichen Sexualität auf:"...daß in sehr vielen Phatasien von Frauen eine andere Frau auftaucht, bei der sie finden, was sie in der Realität von ihrem Liebhaber nicht erhalten - Zärtlichkeit vor allem." Ferner berichtet sie über die Liebe zu dritt, wobei sie sich nur über die Sexualität zu dritt und ihre Schwierigkeiten äuß ert.
Und schließlich beendet sie ihr Buch mit den Sätzen: "Für mich selbst war es ein großer Gewinn, ..., ein Gewinn für meine heutige Hetero-Partnerschaft.", und weiter:" Ich möchte niemanden zur Lust an der Bisexualitä t überreden, Aber die, die das Gefühl haben, sie sollten es einmal ausprobieren, ermuntern."
So, denke ich, am Ende angelangt, irgendwie fehlt mir sehr viel in diesem Buch. Ich über lege mir die Fragestellung von Sina-Aline Geißler, die dazu geführt hat, daß ich immer nur im Ohr habe: Sex, Eifersucht, Lust, Sexualpraktike n, und immer wieder Sex.
Natürlich heißt es BiSEXualität. So scheint für die Autorin SEX großgeschrieben zu sein. Sicher ist Sexualität eine Möglichkeit, tief in meine eigene Seele zu blicken und festzustellen, daß ich mich von Fraue n und Männern angezogen fühle. Aber Bisexualität ist eben keine Sexualpraktik wie S&M, oder Kindersex, sondern für mich meine Identität, die sich nicht nur in der Sexualität ausdrückt. Ich sehe doch nicht in jedem Menschen einen potentiellen Sexpartner, sondern ich verbinde Bisexualität mehr mit einer Ideologie: ein offeneres, flexibleres und toleranteres Umgehen mit Frauen und Männern. Weg von der unterdrückenden Zweierbeziehung hin zur veran twortungsvollen Polygamie. Und da geht es mir nicht nur um Sex, sondern um Austausch, Kommunikation und Liebe in den Beziehungen, die natürlich Sexualität beinhalten, wo es aber nicht um den Sex zu dritt geht.
Außerdem läßt sich für mich der Begriff «Zärtlichkeit» durchaus mit männlicher Sexualität vereinbaren. Ich finde mich hier ständig zwischen den Polen Frau-Mann definiert, und habe überhaupt so meine Schwie rigkeiten mit Definitionen.
Dieses Buch hat mich ärgerlich gemacht, weil ich den Eindruck habe, daß scheinbar verständnisvoll etwas nicht Verstandenes beschrieben wird.
Bisexualität also doch 2 Paar Stiefel?
Vivian
darin auseinandergesetzt wird, wie die Bisexualität in die Welt kam, warum sie eigene Herolde braucht weshalb es unter Bisexuellen so gefällig ist, was diesen eigentümlich ist und wie und wo sie sich zusammenrotten...
Ein Gespräch mit Fritz Klein.
Fritz Klein gehört zu den amerikanischen Bi-Aktivisten der ersten Stunde. Er lebt und arbeitet heute als Psychiater und Therapeut in San Diego, Kalifornien. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Artikeln über Bisexualität verfaßt e er unter dem Titel The Bisexual Option eines der Standardwerke zum Thema. Zusammen mit Timothy Wolf gab er den ersten wissenschaftlichen Sammelband zu Bisexualität heraus: Two Lives to Lead: Bisexuality in Men and Women. Das folgende Interview wurde am 11.9.94 geführt, als Fritz Klein in Berlin zu Besuch war. Die Fragen stellte Robin Cackett, der auch die Übersetzung ins Deutsche besorgte.
Robin: Fangen wir mit der Geschichte der Bi-Bewegung an. Es kommt mir so vor, als hätten sich vor zehn, fünfzehn Jahren nur sehr wenige Menschen öffentlich zu ihrer Bisexualität bekannt...
Fritz: ... vor allem gab’s keine Bewegung...
Robin: ... und es gab keine Bi-Bewegung. Woher der Wandel? Warum gibt es heute mehr Leute, die sich öffentlich als bisexuell bezeichnen?
Fritz: Das meiste, was ich zu sagen habe, gilt für Amerika, obschon ich auch über Europa ganz gut Bescheid weiß. Als ich 1974 mit meinen Forschungen begann, das ist inzwischen zwanzig Jahre her, gab es in den Vereinigten Staaten vielleicht fünf bis zehn kleine Bisexuellenorganisationen. Die größte unter ihnen, diejenige in San Francisco, hatte als Gruppe zur sexuellen Befreiung mit einem Sex-Beratungstelefon begonnen. Nach und nach zeigte sich, daß eine Meng e dieser Leute bisexuell waren, und schließlich wurde in San Francisco eine kleine Bi-Gruppe aufgemacht. In New York gab es damals überhaupt nichts, im Rest des Landes vielleicht zwei oder drei weitere Gruppen. Ich glaube, es gab noch eine Grup pe in Washington, aber die war sehr klein, da kamen höchstens zehn bis fünfzehn Leute zusammen. Aber wie gesagt, eine Bi-Bewegung gab es nicht. Um meine Forschung in Sachen Bisexualität durchzuführen, mußte ich 1975 in New York s elbst eine Gruppe gründen. Dieses Bisexual Forum dürfte neben der Gruppe in San Francisco eine der ersten dauerhaften bisexuellen Selbsthilfegruppen gewesen sein und so blieb es auch für viele Jahre. Erst in den letzten fünf bis zehn Jahren ist in den USA plötzlich mächtig Bewegung in die Sache gekommen. Der Grund dafür lag darin, daß die Homosexuellenbewegung insgesamt politischer wurde und sich die bisexuellen Frauen in der Lesbenbewegung nicht mehr aufgeh oben fühlten. Die Bi-Frauen, die durch die Frauenbewegung politisiert worden waren, hatten keine Lust mehr, sich andauernd mit den Vorurteilen der Lesben herumzuschlagen, und wurden so zur treiben Kraft der Bi-Bewegung.
Ich denke, das trifft ein Stück weit auch für Europa zu. Großbritannien hat dieses Jahr seine zehnte nationale Bi-Konferenz abgehalten, mit anderen Worten, auch in England hat die Bi-Bewegung erst zu Beginn der achtziger Jahre Fuß gefaßt, als in zahlreichen Städten bisexuelle Organisationen gegründet wurden. In Holland gibt es seit Mitte der achtziger einige mehr oder weniger dauerhafte Organisationen und in Deutschland hat die Bi-Bewegung noch weniger Zeit gehabt, sich zu entwickeln.
Robin: Eine Frage, die immer wieder auftaucht und auch von Heteros häufig gestellt wird, lautet: Warum müßt ihr eure Bisexualität an die große Glocke hängen? Werdet ihr denn überhaupt benachteiligt? Was ihr im Schla fzimmer treibt, ist eure Sache, das sei euch unbenommen!
Fritz: Ich denke, die Antwort darauf ist: Wir werden benachteiligt und die Diskriminierung kommt sowohl von der heterosexuellen Seite wie von der schwulen und lesbischen. Die Heteros werfen die Bisexuellen mit den Schwulen und Lesben in einen To pf, so daß wir auf dieselbe Weise diskriminiert werden wie diese, während die Schwulen und Lesben den Bisexuellen mißtrauen und insgesamt eine sehr abschätzige Meinung von ihnen haben; das geht so weit, daß Schwule und Lesben b estreiten, daß es sowas wie Bisexualität überhaupt gibt. Ein bisexueller Mensch kann weder in der Welt der Heten noch in der Homo-Gemeinde ganz er oder sie selbst sein, und so kam es, daß immer mehr Bisexuelle sich eine bisexuelle Id entität angeeignet und ihre eignen Organisationen gegründet haben, um irgendwo hingehen zu können, wo sie sich verstanden fühlen. Das ist jedenfalls meine Erfahrung. Wenn eine bisexuelle Person, die unter ihrer Bisexualität «leide t», weil sie noch nie einen anderen bisexuellen Menschen getroffen hat, zum ersten Mal auf eine Gruppe von Bisexuellen stößt - ganz gleichgültig, ob es ein geselliger Abend oder ein Selbsterfahrungstreffen ist - dann ist das erste, was ihr em Munde entfährt, "Mein Gott, es gibt andere Leute wie mich!", und das zweite: "Hier fühle ich mich verstanden und zu Hause und über ganz wesentliche Dinge brauchen wir noch nicht einmal zu reden!"
Robin: Dieses Gefühl kenne ich von unseren bundesweiten Treffen, aber manchmal beschleicht mich der Zweifel, es könnte eine blanke Illusion sein. Solche Wochenenden haben oft etwas Künstliches an sich: Sie schaffen eine Atmosph&au ml;re, die vollkommen außergewöhnlich ist, weil man über grundlegende Dinge nicht diskutieren muß, weil man sich nicht rechtfertigen muß, weil man sich nicht selbst kontrollieren muß, weil alle anderen zumindest in einer, allerdings zentralen Hinsicht dieselben Voraussetzungen mitbringen. Ist dieses Gefühl bloß eine Fata Morgana oder ist es vielleicht genau das, worum wir kämpfen und was wir auch im Alltag aufzubauen versuchen müssen: unser eigenes Am biente, unsere eigene Gemeinschaft, unsere eigene Kultur?
Fritz: Ich möchte mich der zweiten Auffassung anschließen. Das Gefühl ist keineswegs illusionär und das eigentliche Problem besteht darin, daß es keine bisexuelle Gemeinschaft im umfassenderen Sinne gibt. Wenn es in kl einem Maßstab dazu kommt, indem eine kleine Anzahl von Leuten zusammenfindet, dann entsteht dieses besagte Gefühl, weil es für diese Leute vollkommen natürlich ist, unter ihresgleichen zu sein, und sie sich vom Rest der Bevölkeru ng nicht verstanden fühlen. Mit anderen Worten, es gibt einen Unterschied zwischen Bisexuellen und Monosexuellen.
Und noch etwas anders möchte ich dazu sagen. Die bisexuelle Gemeinschaft unterscheidet sich von monosexuellen Gemeinschaften dadurch, daß sie integriert statt auszugrenzen. Die Gemeinschaft der Bisexuellen akzeptiert im Grunde jede und jeden auf allen Ebenen. Gleichgültig ob die Person lesbisch, schwul oder hetero ist, sie ist in der bisexuellen Gemeinschaft willkommen, weil die Bisexuellen sich mit ihr verwandt fühlen. Aus diesem Grunde akzeptieren und integrieren sie auch Transse xuelle und Transvestiten. Es scheint ganz einfach jenes Vorurteil zu fehlen, daß man in anderen Gemeinschaften vorfindet, die sich für was exklusives halten, das Vorurteil des Die-gehören-zu-uns-aber-die-da-sind-anders.
Robin: Mag sein, daß viele von uns sich der Veränderungen und unterschiedlichen Stadien im Laufe unseres eigenen Lebens bewußter sind: Damals war ich noch der-und-der, aber heute bin ich eine ganz andere. Und dieses Bewußt sein führt vielleicht zu einer größeren Offenheit...
Fritz: ... ja sicher. Außerdem gibt es in der bisexuellen Gemeinschaft ein viel breiteres Spektrum an Leuten; von solchen, die fast ausschließlich homosexuell sind, bis zu solchen, die fast ausschließlich hetero sind. Sie alle sind in der bisexuellen Gemeinschaft gut aufgehoben. Das Spektrum ist so breit ist, daß es eine wahre Freude ist, und es geht darin viel mehr um Zwischenmenschlichkeit als um irgend einen Glaubensinhalt oder eine politisch korrekte Überzeugung.
Robin: Aber wenn die bisexuelle Bewegung oder Identität oder Einstellung so offen ist, worin unterscheidet sie sich dann noch von anderen? Was macht ihren Kern aus? Was macht denn eine bisexuelle Person Deiner Ansicht nach zu einer bisexuel len Person?
Fritz: Nun, ich denke, eine bisexuelle Identität ist nur eine unter vielen Variablen, die zusammengenommen die sexuelle Orientierung bestimmen. Aber die Bereitschaft oder Fähigkeit, andere Leute als seinesgleichen zu akzeptieren, obsch on sie einen völlig anderes Leben führen, schafft in der Bi-Gemeinde eine gewisse Offenheit, die der schwulen Gemeinde zum Beispiel fehlt. Die schwule Gemeinde hat feste Normen. Nehmen wir ein beliebiges Beispiel: Es gab Zeiten, da mußtest Du kurze Haare haben, um zur schwulen Gemeinde dazuzugehören, oder Du mußtest eine Lederjacke tragen oder einen Ohrring, oder Du mußtest bestimmte Dinge tun oder Dich an bestimmten Orten aufhalten. Die Bi-Gemeinschaft ist anders, weil ni cht alle Bisexuellen nach solchen subkulturellen Normen leben wollen. Manche wollen als Paar in der Heterogesellschaft leben, wieder andere in Dreiecksbeziehungen etc., so daß bei all den verschiedenen Lebensentwürfen, die jede einzelne Person verfolgt, als gemeinsamer Nenner nur die Offenheit übrig bleibt und, wie Du sagtest, ein größeres Verständnis dafür, daß sich Menschen verändern und wandeln und im Rahmen des gesamten Spektrums ganz unterschiedliche In teressen verfolgen können.
Robin: Aber hat das nicht zur Folge, daß es unendlich schwierig ist, diesen bunten Haufen zu organisieren, einen gemeinsamen Nenner zu finden, von dem aus politisch gehandelt oder eine Gruppe aufgebaut oder ein Selbsthilfezentrum organisie rt werdenkönnte?
Fritz: Ja und nein. Auf der einen Seite entstehen daraus mancherlei Probleme, auf der anderen Seite haben wir eine viel breitere Palette an Leuten aus allen Bereichen der Gesellschaft, sowohl was ihren beruflichen wie was ihren Bildungshintergru nd anbelangt. Wenn Du ein Bi-Treffen organisierst, dann steht von vornherein fest, daß viele der Leute, die aufkreuzen werden, sehr wenig mit Dir gemein haben. Das gehört zu einem solchen Treffen gewissermaßen dazu, daß was dem eine n sin Ul, dem andern sin Nachtigall ist, und daß die Interessen der einen Bi-Gruppe sich deutlich von den Interessen der nächsten Bi-Gruppe unterscheiden.
Der Punkt ist, ich kann darin nichts Beklagenswertes sehen. Im Gegenteil, ich finde die Vorstellung geradezu befreiend, daß Leute allein auf der Grundlage zusammenkommen, daß sie sich für beide Geschlechter interessieren, wohl wissend, daß sich ihre sonstigen Interessen radikal unterscheiden.
Robin: Ich kann mich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, daß es hierzulande vor allem eine bestimmte Sorte von Leuten für nötig findet, eine bisexuelle Identität zu entwickeln oder sich öffentlich zu ihrer Bisexualit&a uml;t zu bekennen: Leute aus der Mittelklasse und/oder mit einer höheren Bildung. Ist das in den Staaten anders oder im Laufe der Jahre anders geworden?
Fritz: Nein, es ist nie so gewesen. Ich glaube, daß es sich bei denjenigen, die aus ihrer Bisexualität ein Politikum machen, um Leute handelt, die irgendwo dazugehören möchten, sich aber naturgemäß nur in einer Gr uppe von Bisexuellen wohl fühlen. Ich habe auf Bi-Treffen immer Leute aus allen ökonomischen Klassen angetroffen. Welche Leute man erreicht, hängt meiner Ansicht nach vor allem davon ab, wo und wie man solche Zusammenkünfte annonciert und publik macht. Ich stimme mit Dir überein, daß die besser verdienenden und ausgebildeten Leute im allgemeinen in der Mehrzahl sind, aber der Grund dafür liegt ganz einfach darin, daß sie die Möglichkeit, die nötige Mu&sz lig;e und die erforderliche Bildung haben, zwischen verschiedenen sexuellen Orientierungen zu differenzieren, deren Unterschiede zu erkennen und, vor allem, mit ihrer Ambivalenz zu leben, ohne sich in die eine oder andere der bestehenden Schubladen einord nen zu müssen.
Robin: Fritz, Du hast in New York und San Diego eine Menge Erfahrung mit der Organisation von Bi-Gruppen gesammelt und kennst zahllose Leuten aus allen Teilen der USA, die Bi-Gruppen gegründet und geleitet haben. Welchen Rat würdest Du jemandem geben, die oder der eine Selbsthilfegruppe gründen will? Zu den Grundproblemen gehören sicherlich die beiden Fragen (1) Wie kriege ich die Leute zusammen? und (2) Wie halte ich sie bei der Stange und verhindere, daß die Gruppe au seinanderbricht?
Fritz: Es braucht in der Regel ein oder zwei Leute, die wirklich entschlossen sind, eine Gruppe aufzumachen - das ist die erste und wichtigste Voraussetzung. Die zweite Voraussetzung ist Geduld; man darf die Flinte nicht zu früh ins Korn we rfen, sondern muß abwarten, bis die Gruppe richtig läuft. Die Gruppe ist anfangs ein sehr labiles Gebilde:
Die Leute kommen aus ganz unterschiedlichen Gründen, manche wollen einfach nur Informationen haben, andere möchten eine gewisse Bestätigung für ihre Lebensweise bekommen. Nicht alle kommen in die Gruppe, weil sie Teil der Gruppe sei n möchten, und entsprechend groß ist die Anzahl derer, die wieder fernbleiben. Nimm mal an, Du hast eine Gruppe von zehn Leuten, die sich regelmäßig treffen, und da kommt eine elfte Person zur Tür rein, schaut sich um, sieht blo ß zehn Leutchen oder acht oder sechs, von denen ihr auf Anhieb niemand sympathisch ist, sei es, daß sie nicht das richtige Alter haben oder nicht der richtigen Schicht angehören oder nicht die richtige Bildung haben oder daß sie den Neuankömmling schief angucken oder nicht mit dem übereinstimmen, was er oder sie sagt - und es wird nicht lange dauern, bis er oder sie wegbleibt. Andere Leute kommen der sozialen oder sexuellen Kontakte wegen in die Gruppe, und wenn sie nicht kriegen, was sie suchen, bleiben sie wieder weg. Aus all diesen Gründen muß der oder die Leiter/in oder Gründer/in einer Bi-Gruppe bereit sein, mindestens ein bis zwei Jahre zu investieren, und, komme was wolle, mit eiserner Regelmä&s zlig;igkeit die Sitzungen abhalten. Nehmen wir an, Ihr trefft Euch am dritten Mittwoch des Monats, dann bedeutet das, daß Du einmal im Monat pünktlich am rechten Ort bist und das Treffen leitest und daß Du Eure Zusammenkunft durch eine kl eine Anzeige in der einschlägigen Presse - seien es heterosexuelle Zeitungen oder alternative Stadtmagazine oder schwule und lesbische Zeitschriften - bekannt machst. Manchmal dauert es ein bis zwei Jahre, bis ein Mensch, der die Anzeige schon fü ;nf, sechs, sieben Mal gelesen hat, den Mut faßt, zu einem Treffen zu gehen. Aber irgendwann kommt für gewöhnlich ein kritischer Punkt, an dem genügend Leute zu den Treffen kommen, so daß auch Neuankömmlinge jemanden finden , den oder die sie mögen, und die Gruppe kriegt eine Eigendynamik und bleibt auch als solche bestehen. Sowohl meine Erfahrungen in New York wie in San Diego haben mir gezeigt, daß die Treffen am Anfang unheimlich vorsichtig und unverbindlich si nd und nur von sehr wenigen Leuten besucht werden. Es war nur dem Eifer und der Ausdauer der GruppenleiterInnen zu danken, daß daraus mit der Zeit eine Bi-Gruppe wurde. Wichtig zu erwähnen ist außerdem noch, daß die Gruppe tunlichst von einer Frau und einem Mann geleitet werden sollte, weil es dann zu einer ganz anderen Dynamik kommt, als wenn die Gruppe nur von einem Mann oder nur von einer Frau geleitet wird. Das gilt für jede Form von bisexueller Organisation. Und der letzte Rat, den ich jemandem geben möchte, der in einer neuen Stadt eine Bi-Gruppe gründen will, lautet: Erkundige Dich nach den Erfahrungen von Leuten, die es schon Mal gemacht haben. Nehmen wir an, Du sitzt in Dortmund und in Dortmund gab es noch ni e eine Bi-Gruppe, dann solltest Du mit der BiNe oder mit der Kölner oder irgend einer anderen funktionierenden Gruppe Kontakt aufnehmen, damit Du nicht dieselben Fehler machst, die sie gemacht haben.
Robin: Die Interessen oder Philosophien der verschiedenen Bi-Gruppen unterscheiden sich allerdings beträchtlich...
Fritz: Zweifelsohne, aber das hängt von den GruppenleiterInnen ab. Wenn die LeiterInnen eine Sexgruppe aufmachen wollen, dann wird die Gruppe auch als solche enden, weil sie nur Leute anziehen, die Sex haben wollen; wenn die GründerInn en anderen dabei helfen wollen, mit ihren Problemen fertig zu werden, dann wird eine Therapiegruppe daraus werden; wenn ihnen mehr am Geselligen liegt, dann entsteht eine bisexuelle Freizeitgruppe, und wenn sie vor allem politisch arbeiten wollen, dann wi rd sich die Gruppe vornehmlich politisch betätigen. So kann es kommen, daß zwei oder drei verschiedene Gruppen gleichzeitig laufen. Was daraus wird, hängt weitgehend von den Leuten ab, die die Sache anzetteln, oder vielmehr von der Art der Energie, die in die Gruppe hineingesteckt wird.
Robin: Wie sieht denn die bisexuelle Infrastruktur in den Vereinigten Staaten heute aus? Haben die meisten Gruppen eigene Räumlichkeiten oder ist dieser Luxus auf San Francisco und Boston beschränkt?
Fritz: Nun, die meisten Gruppen haben heutzutage feste Orte, an denen sie sich treffen, häufig in Schwulen- und Lesbenzentren, eine ganze Reihe trifft sich in freikirchlichen oder sonstigen Gemeinderäumen. Wenn es sich um eine Kleinsta dt handelt, trifft man sich oft auch privat bei jemandem zu Hause. Das ist häufig die einfachste Art, eine Gruppe anzufangen, weil es zu Beginn noch an Leuten und am Geld fehlt, um Räume anzumieten, auch wenn die Miete sehr gering ist. Aber die Vereinigten Staaten haben sich in den letzten Jahren mächtig gemausert. Es gibt heute hunderte von Gruppen und Organisationen und jedes Jahr werden es mehr und mehr und mehr... Eine neuste Entwicklung ist, daß auch an den Universitäten neb en den Lesben- und Schwulengruppen überall Bi-Gruppen wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Und das zweite, was in den USA viel stärker als in Europa im Kommen ist, sind Computernetze wie Internet. Selbst wenn Du in einer Stadt lebst, die kei ne Bi-Gruppe hat, kannst Du mit Bisexuellen in aller Welt kommunizieren, indem Du dich in eine User-Gruppe oder Mailinglist einklinkst und via Computer an den Diskussionen teilnimmst, bisexuelle Leute kennenlernst und Dich mit ihnen austauschst.
Dieses Interview wird im nächsten Heft fortgesetzt.
Erkenntnisse aus Elmstein
«Sexualität» war das Thema einer interessanten Gesprächsrunde auf dem letzten Bi-Treffen in der Pfalz. So saßen vormittags Frauen und Männer getrennt beisammen, um sich über ihre Empfindungen und Vorstellungen auszutausche n, während sie sich dann am Nachmittag alle miteinander in einer Runde zusammensetzten.
Schon bald stand die Frage im Brennpunkt, was denn nun die Unterschiede in der Zärtlichkeit mit Männern und Frauen seien. Die Antworten waren so unterschiedlich wie die Menschen in unserer Runde.
Dieser Austausch hat mir einige neue Einsichten verliehen, vor allem, was die Bandbreite der Empfindungen und entsprechenden Erfahrungen angeht. Doch ich war erstaunt, wie stark das klassische Rollenverhalten sowohl viele Hetero-, als auch Homo-Beziehu ngen beeinflußt. Damit meine ich die Rolle der Frau als Passive, sich Hingebende, und die des Mannes als den Aktiven. Bei manchen scheint gerade dieses Rollenbild das unterschiedliche Verhalten und Erleben im Umgang mit Mann/Frau zu prägen. Das kann zum Beispiel so aussehen, daß ein Mann den aktiven Part bei seiner Frau spielt und im Ausgleich beim Sex mit Männern stets das Passive bevorzugt. Es kann aber auch heißen, daß - wie ich nachmittags erfahren durfte - beispielsw eise eine Frau so sehr ihre passive Rolle gegenüber dem Mann beherrscht, daß sie in einer Frauenbeziehung erst einmal Schwierigkeiten hat, selbst die Initiative zu ergreifen.
So stehen also die Beziehungswelten im Umgang mit beiden Geschlechtern oft in einem Wechselspiel zueinander.
Dieser Austausch hat mir einige neue Einsichten verliehen, vor allem, was die Bandbreite der Empfindungen und entsprechenden Erfahrungen angeht. Doch ich war erstaunt, wie stark das klassische Rollenverhalten sowohl viele Hetero-, als auch Homo-Beziehu ngen beeinflußt. Damit meine ich die Rolle der Frau als Passive, sich Hingebende, und die des Mannes als dem Aktiven. Bei manchen scheint gerade dieses Rollenbild das unterschiedliche Verhalten und Erleben im Umgang mit Mann/Frau zu prägen. Das kann zum Beispiel so Wegen des Rollenverhaltens wäre es dann auch für viele problematisch, in einem Dreier sich zugleich einer Frau und einem Mann hinzugeben. Eben deshalb, weil es dann gelten würde, zwei Rollen gleichzeitig zu spielen.
Aber auch in Sachen Beziehung mit Mann oder Frau variiren die Vorzüge sehr. Während für einige die klassische Hetero-Beziehung mit Ängsten und Erwartungen verknüpft ist, einem gesellschaftlich geprägten Bild zu entsprechen , fühlen sich andere in der Homobeziehung sehr unsicher, da immer wieder Zweifel am Funktionieren der Beziehung auftauchen.
Hier wurde wieder mal besonders deutlich, wie wenig sich Menschen und ihre Gefühle in ein Schema pressen lassen und wie gefährlich Verallgemeinerungen sind. Gerade diese Vielfalt erstaunt und fasziniert mich an den Bi-Treffen. Doch trotz der Verschiedenheit fühlte ich mich irgendwie stark mit den Anderen verbunden und es entstand so eine Art Wir-Gefühl, gleichsam als hätten wir soviel gemeinsam.
Bei allen Unterschieden gibt es ja einen gemeinsamen Nenner, der uns nicht nur zusammenbringt, sondern auch gegenseitiges Nachempfinden, Mitfühlen und eben auch dieses Gefühl der Verbundenheit möglich macht: Der Reiz an beiden Geschlecht ern.
Manni
von Lily Braindrop, übersetzt von Peter Hilbinger u. Thomas Grossmann
In unserer letzten Ausgabe veröffentlichten wir den ersten Teil eines Artikels, der die Situation bisexueller Männer und Frauen in den USA schildert. Hier nun der zweite Teil.
Die Bi-Bewegung in den USA besteht zwar schon länger, tritt aber erst jetzt stärker in die Öffentlichkeit. Ganapati Durgadas, Mitglied des "Bisexuellen Networks", fällt auf, daß in der Bewegung im Augenblick die Frauen an vorderster Front kämpfen. "Bisexuelle Frauen haben - ganz genau wie lesbische und feministische Frauen - das Bedürfnis, soziale Strukturen, Geschlechtsrollen und sozio-ökonomische Bedingungen zu hinterfragen."
"Niemand würde sich Gedanken darüber machen, wenn eine Bewegung von Männern geführt wird." spottet Loraine Hutchins, eine bisexuelle Aktivistin und Co-Autorin von Bi Any Other Name. "Frauen führen die Bewegung, w eil Frauen geborene Führerinnen sind! Viel wichtiger ist die Frage: Wo bleiben die Männer?"
"Männer", meint Durgadas, "haben einfach nicht ständig das Bedürfnis, Dinge in Bewegung zu bringen. Es erscheint ihnen nicht so wichtig."
Elias Farajaje-Jones stimmt da zu: "Das hat mit den männlichen Privilegien zu tun. Männer bewegen sich erst, wenn ihnen jemand auf die Zehen steigt und ihnen ihre Lutscher klaut." Nichtsdestotrotz fällt auch ihm auf, daß inzwischen zunehmend Männer beginnen, "in Bezug auf bisexuelle Fragen aktiver zu werden."
Warum hat die Bi-Bewegung in den vergangenen Jahren so an Schwung gewonnen? Viele Aktive glauben, dies habe mit der AIDS-Krise zu tun. Sie ist zugleich ein harter Schlag für die Bi’s gewesen - und ein Anstoß, sich zu organisieren. "Uns in einem Moment großen Ärgers und großer Trauer zusammenzutun, brachte viele Mauern zum Einsturz," vermutet Carol Queen. Und noch mehr Leute wurden, so glaubt Jarajaje, durch die Diskussionen aufgewühlt, ob Schwule noch län ger akzeptiert werden könnten.
Überhaupt meinen viele, daß die aufmüpfige schwule Aktionsgruppe "Queer Nation" nicht nur die Bi-Bewegung inspiriert, sondern bei Lesben und Schwulen auch die Akzeptanz bisexueller Lebensweisen gefördert hat. Indem sich v erschiedene sexuelle Minderheiten unter dem all-umfassenden Dach "Queer" (= schräg, aus der Norm, d.Übers.) zusammenfanden, kreierte die Gruppe "Anderssein als Kultur, nicht bloß als sexuelle Identität," meint Elis abeth Weise aus Seattle.
In diesem Prozeß werden die Gemeinsamkeiten von verschiedenen sexuellen Identitäten betont - im besonderen die Erfahrungen mit nicht-heterosexuellen Beziehungen. Und Unterschiede, obwohl weder ausgeräumt noch verleugnet, werden verringe rt. "Queer Nation hat die Leute so verschreckt, daß sie heute froh sind, wenn man ‘bloß’ bi ist,"lacht Elisabeth Weise.
Bisexuelle sind sich darüber im Klaren, daß das plötzliche Wachstum ihrer Bewegung nicht in einem Vakuum entstanden ist, und wissen, daß sie den schwulen und lesbischen PionierInnen von gestern und heute einiges zu verdanken haben . Das sieht auch Elisabeth Weise völlig klar: "Nichts von den Aktivitäten der Bi-Gruppen wäre geschehen, wenn nicht die (Vor-)Arbeit der Lesben und Schwulen gewesen wäre!".
Und Robyn Ochs fügt hinzu: Die Unterstützung der Bi-Bewegung sei "ein Zeichen für die Reife der lesbisch-schwulen Gemeinschaft. Unsere Gesellschaft ist stark genug geworden, um über so komplexe Probleme zu sprechen wie Bisexual ität, Rassismus, S/M oder Transsexualität. Früher hieß es: ‘Nach der Revolution können wir darüber reden’, aber heutzutage denken viele, die Revolution ist vielleicht längst vorbei - also laßt uns jetzt drübe r sprechen!"
John de Cecco, Psychologieprofessor aus San Franzisko und Herausgeber des angesehenen ‘Journal of Homosexuality’ sieht die Entwicklung vor einem weiteren Hintergrund. Für ihn ist sie ein Indiz für eine tiefgreifende Veränderung des heter osexuellen oder homosexuellen Modells von sexueller Identität und eine Chance, Geschlechterrollen neu zu definieren. "Die Wahl, die wir treffen, um eine Partnerin/einen Partner zu finden, wird nicht länger auf das Geschlecht gegründet sein, vielmehr auf eine sehr spezifische Mischung aus Persönlichkeit, physischen Komponenten und weiteren Merkmalen. Während die meisten Menschen ihre Auswahl jenseits dieser Kriterien nur auf ein Geschlecht begrenzen, werden die Grenzen - ganz ohne soziale oder wirtschaftliche Gründe - nun neu gezogen."
Da sich Bisexuelle sowohl außer- wie innerhalb der schwul-lesbischen Bewegung organisieren, spürt man die Auswirkungen überall. Die Diskussion wird über Identitäten, Begriffe und Gemeinschaft geführt, und Neudefinitionen bahnen sich ihren Weg. Das gefällt nicht allen Schwulen und Lesben, insbesondere nicht jenen, die weiterhin eine abgeschlossene, eigene Gemeinschaft aufbauen wollen. Aber die Zeit nimmt darauf keine Rücksicht.
Robyn Ochs konstatiert: "Alle wehren sich gegen Veränderungen, das ist nun mal so. Sogar, wenn uns das Ergebnis gefällt - erst einmal tun wir uns schwer damit."
Ende