Cyber-Bijou Nr. 1 (Oktober 94)

 Inhalt:

  1. Editorial
  2. Thermodynamik und Bisexualit
  3. Die Bi-Bewegung in den USA
  4. Zwischen Illusion und Wirklichkeit Fragmentarisches aus dem Leben eines bisexuellen Familienvaters
  5. Bisexualität auf bairisch
  6. Von einem Gummibären der Sylvester auszog.......
  7. 37,2 Grad am Wochenende


Editorial

Im Mai 1993 setzten sich zwei Frauen und sechs Männer während eines «Bi-Konzept-Seminars» zusammen, um ein Zeitungsprojekt in Angriff zu nehmen. Der Wunsch nach einem solchen Organ war schon reichlich alt, diesmal aber gelang endlich die Konzeption.

Das Ergebnis ist «bix»: informativ, persönlich, politisch und ein bißchen frech.

Wie entsteht bix ?

Bisher durch einige Wenige. Zukünftig hoffentlich auch durch Eure Mitarbeit. Das Blatt soll viermal im Jahr erscheinen und verschiedene Rubriken enthalten:

Termine & News, Kultur & Kunst, «Die Bewegung tagt», Gruppen-Selbstdarstellungen, Wissenschaft & Forschung, Diskussions-Schwerpunkte, Internationales usw.

Wer Lust hat zu schreiben, ist herzlich aufgerufen, sich an diesem Forum zu beteiligen. Die Texte, Zeichnungen u.ä. werden in München zusammengetragen, zu einer Zeitschrift verarbeitet, die dann gedruckt und verschickt wird.

Es hängt also auch von Euch ab, ob bix so aktuell, interessant und lesenswert wird, wie wir es uns wünschen. Kontaktadresse für Interessierte steht im Impressum.< /P>

Wen wollen wir ansprechen?

bix ist ein Blatt von bisexuellen Frauen und Männern für Bisexuelle (und solche, die sich dafür interessieren). Vor allem für Leute, die in Bi-Gruppen engagie rt sind und die mehr darüber wissen wollen, was woanders läuft. Es dient also dem Informations- und Erfahrungsaustausch, es schafft und vermittelt ein Stück bisexueller Kultur.

bix ist dem Bisexuellen Netzwerk BiNe e.V. freundschaftlich verbunden und fungiert als «Projekt» des Vereins, ist redaktionell aber unabhängig.

Wie kommt man an dieses Blatt?

Ganz leicht. Diese erste (Probe-)Nummer wird an alle (hoffentlich) Interessierten verschickt. Weitere Ausgaben erhaltet Ihr nur über uns direkt.

Mitglieder der BiNe sind fein dran - sie bekommen bix zusammen mit dem BiNe-Rundbrief. Alle anderen erhalten zukünftige Ausgaben, indem sie den Coupon am Ende des Heftes au sfüllen und uns zusammen mit einem Zehn-Mark-Schein per Post zuschicken. Dafür gibt es dann vier Ausgaben.

Also auf zum ultimativen Lesegenuß!

Die MitarbeiterInnen wünschen allen viel Spaß bei der Lektüre - und sind gespannt auf jede Form von Anregung, Kritik, Kommentare, und... und...und... (am liebsten schriftlich...)!

 

Thomas und Heiner

 


Thermodynamik und Bisexualität

In der angewandten Physik wird zum Thema «Thermodynamik» folgende Erkenntnis formuliert: "Die (Eigen-)Bewegung von Molekülen wird mit abnehmender Zufuhr von Wärmeenergie geringer und hört schließlich ganz au f!". Oder umgekehrt.

Gilt dieses Gesetz auch für gesellschaftliche Bewegungen? Sind Sympathie und Wärme die treibenden Kräfte für die beginnende Bisexuellen-Bewegung in Deutschland?

Vor einigen Jahren ist mit den ersten bundesweiten Bi-Treffen eine Institution geschaffen worden. Zweimal im Jahr kamen sie großräumig angereist, die bisexuellen Frauen und Männer, um ein Wochenende lang die übrige Welt auszuklamme rn. Es ist begeisternd, liebevoll, informativ, schwierig, laut, ruhig, übernächtigend und anregend. Die Atmosphäre ist jedesmal aufs neue sensationell und bei den meisten entsteht ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Best&au ml;tigung. Manchmal werden auch politische Ansprüche geäußert und diskutiert.

Bisweilen zeigten sich jedoch bemerkenswerte Begleiterscheinungen. Ganz langsam öffnete sich irgendwann eine Kluft zwischen den Menschen, die viel Spaß an der Gemeinschaft haben, und denjenigen, die auch die Arbeit machen. Es war bald der Pu nkt erreicht, an dem unangenehme Fragen nach Verantwortlichkeiten und persönlichem Engagement auftauchten, nach Ziel und Inhalt der Begegnungen.

Und so begann während der bundesweiten Treffen ein Pflänzchen zu wachsen, das sich «Bi-Bewegung» nennt.

Aber was ist denn nun diese Bewegung? Woher kommt sie, was macht sie und was hat sie für eine Zukunft? Versuchen wir doch einmal eine Definition:

 

Eine Bewegung im Sinne einer Interessengemeinschaft ist eine große Kraft. Sie wird nicht gemacht und sie entsteht nicht zu einem vorher festlegbaren Zeitpunkt. Sie ist eine Ordnung, die zufällig entsteht: Menschen bemerken überrascht , daß sie in dieselbe Richtung gehen, manchmal, weil jemand laut darüber spricht. Solche Prozesse finden in jeder Gesellschaft statt und sind in ihrer Entstehung und ihrem Verlauf extrem unterschiedlich. Allen ist jedoch die Eigenschaft gemeins am, daß sie ihre Lebenskraft aus einer Unzufriedenheit beziehen. Es geht darum, bestehende Verhältnisse verändern zu wollen und/oder die Menge der Beteiligten zu vergrößern.

 

Unzufriedenheit. Sind wir bundesdeutschen Bisexuellen unzufrieden? Wollen wir die Gesellschaft verändern? Oder wollen wir einfach nur missionieren und für die Bisexualität werben? Aber einem Missionsauftrag muß eine vermittelbare I deologie zugrunde liegen, eine tragfähige Vision. Stellen wir uns doch mal vor, unsere lieben MitbürgerInnen hätten alle erkannt, daß sie durchaus nicht nur seelische, sondern auch erotische Gefühle zu Menschen des eigenen Geschl echtes entwickeln, und daß es gut ist, diesen Impulsen nachzugeben. Sie wären sich bewußt, daß sie im Grunde bisexuell sind. Würden sie sich dadurch besser fühlen? Ist eine bisexuelle Gesellschaft per se eine zufriedenere Gesellschaft?

 

Vielleicht eher die Gesellschaftsveränderung. Ein bißchen alt geworden ist der Karren ja, aber es ist erstaunlicherweise immer noch Platz für neue Gedanken. Was soll sich denn nun verändern? Beispielsweise ist mehr Toleranz gefragt , mehr Gleichstellung der Partnerschaften in verschiedener Hinsicht. Anders gelebte Geschlechterrollen bis hin zum alltäglichen Sprachverhalten, Bisexualität als Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung ...

 

Kann die warme Atmosphäre so Großes leisten? Wenn eine Gemeinschaft unter diesen Ansprüchen nicht auseinanderbrechen soll, ist auf Dauer sicher eine Kraft erforderlich, die über ihre Entstehung hinausreicht.

 

Eine Bewegung, die stark genug sein soll, ihrerseits etwas in der Gesellschaft zu bewegen, braucht Kreativität, Lebendigkeit, Initiative, Arbeitkraft; sonst "wird sie mit abnehmender Zufuhr von Wärmeenergie geringer und hört schließ ;lich ganz auf!"

Ich glaube, ein guter Anfang ist beispielsweise die Gründung des Bisexuellen Netzwerkes mit all den inneren und äußeren Schwierigkeiten. Begeisterung und Frustration wechseln sich ab, und nach einer gewissen Zeit wird deutlich, in welch em Boden die Idee tatsächlich wurzelt.

 

Und das ist wohl der Kern des Ganzen: Das Netzwerk, ein Filmprojekt über Bisexualität, soziologische Forschung, eine Zeitschrift und vieles in diesen Dimensionen - das alles lebt nicht davon, daß wir uns alle so lieb haben. Die Entwickl ung einer bisexuellen Kultur mit allem Zubehör, auch der politischen Arbeit, setzt voraus, daß im Zentrum die Ideen stehen und nicht bestimmte Personen. Klar, es geht um Menschen und um eine bisexuelle «community», und Spaß machen soll es ja auch...! Dennoch werden letztlich nur die personenübergreifenden Projekte wachsen, Zeiten der Lustlosigkeit überstehen, immer irgendwie im Blickfeld sein und beharrlich an Kontur gewinnen.

 

Es bleibt die Frage, ob wir eine Bisexuellen-Bewegung wollen, und daran arbeiten, die Visionen zu verwirklichen. Oder sind wir aktiv und sehen erst in Zukunft, ob sich daraus eine Bi-Bewegung entwickelt? Vermutlich wird nur letzteres funktionieren, den n eine Bewegung läßt sich ebensowenig «machen», wie sich die Gesellschaft vorsätzlich verändern läßt. Ich glaube allerdings, daß diese Frage jede/jeder für sich beantworten muß.

 

Heiner

 


Die Bi-Bewegung in den USA

von Lily Braindrop, übersetzt von: Peter Hilbinger u. Th.Grossmann

 

Der folgende Artikel wurde in der amerikanischen Zeitschrift «The Advocate» veröffentlicht. Er schildert den - überwiegend schwulen - Lesern die Situation der Bisexuellen-Bewegung. Da sich auf der anderen Seite des Atla ntik in dieser Beziehung schon eine Menge entwickelt hat, drucken wir hier eine Übersetzung des Artikels nach. Er muß leider aus Platzgründen geteilt werden, so daß der zweite Teil in der nächsten Ausgabe erscheint.

 

Viele Leute diskutieren noch darüber, ob Bisexuelle zu Recht einen Platz in der schwul/lesbischen «Gemeinde» haben. Dabei arbeiten Bi’s längst genauso hart wie die Homosexuellen daran, mehr an die Öffentlichkeit z u gehen, zur Bewußtseinbildung beizutragen, eine Gemeinschaft zu bilden und Brücken zu bauen. Brücken, die nötig sind, um ein gemeinsames bisexuelles, lesbisches und schwules Programm zusammenzustellen und zu verankern. Im Zuge der En twicklung wird deutlich: Bisexualität ist mehr als ein anregender Gesprächsstoff, wenn einem die Themen beim Plausch ausgehen! Coral Queen, Sexualpädagogin aus San Francisco, sieht es so: "Es gibt eine Tendenz, diese Bewegung zu verhar mlosen. Aber das wird nicht gelingen, denn sie ist alles andere als harmlos!"

In den vergangenen Jahren waren die Fortschritte hin zu offenerem Auftreten beachtlich, ebenso hin zu einer stärkeren Integration in die Homosexuellen-Bewegung. Eine Vielzahl schwuler und lesbischer Organisationen und Publikationen haben nicht nur «bisexuell» zu ihren Namen und Titeln hinzugefügt, sondern auch tatsächlich bisexuelle Themen aufgegriffen. Die Beteiligung von Bi’s an vielen Schwulen- und Lesben-Demos im ganzen Land wurde zudem anerkennend zur Kenntnis genommen.

Der größte Erfolg aber war eine Namensänderung. Für 1993 wurde ein großer Marsch nach Washington, dem Regierungssitz, geplant. Nach einer langen, hitzigen Debatte stimmte das 79köpfige Vorbereitungskomittee dafür, d en Titel in «Marsch nach Washington für lesbische, schwule und bisexuelle Gleichberechtigung und Befreiung» umzubenennen. Für Naomi Tucker aus San Franzisko ist dies "der größte Schritt schwul/lesbischer Gruppen hin zu einer Inte gration von Bisexualität. Bemerkenswert ist vor allem, daß zum ersten Mal so viele Vertreter von Gruppen aus so verschiedenen Landesteilen zusammengekommen sind, um das Sichtbarmachen von Bisexualität voranzutreiben."

 

Zusätzlich zu dieser allmählichen Verknüpfung von Bi’s mit der größeren schwul/lesbischen «Community», sind Bisexuelle in den USA weiter dabei, eine eigene Gemeinschaft zu formen. Die wachsende Zahl von Bi-Gruppen überall in den USA und in Europa ist ein Hinweis dafür. Nach Robyn Ochs aus Boston - er veröffentlichte das ‘Internationale Adressbuch bisexueller Gruppen’ - existieren inzwischen weltweit nahezu 350 Organisationen (80% davon in den USA), die sich in d er einen oder anderen Weise mit bisexuellen Fragen beschäftigen. 150 davon sind studentische Gruppen.

Bisexuelle haben sich zudem daran gemacht, eigene Print-Medien (Zeitungen, Zeitschriften) zu gründen, die bereits in vielen schwul/lesbischen oder Frauen-Buchläden ausliegen. 1990 kamen die beiden ersten Anthologien über Bisexuelle von B isexuellen auf den Markt: «Bi And Other Name» und «Bisexuality: A Reader and Sourcebook». Im folgenden Jahr debütierte «Anything That Moves», ein vierteljährlich erscheinendes Bi-Journal. Und frisch aus der Presse kommt n un ein weiteres Sammelwerk: «Closer To Home: Bisexuality And Feminism».

Wie alle anderen Minderheiten, die um Anerkennung, politische Organisation und eine eigene Gemeinschaft ringen, müssen auch Bisexuelle gegen Vorurteile und Mißverständnisse bezüglich ihrer Sexualität ankämpfen. Carol Queen, die öfters in der schwulen und lesbischen Presse schreibt, zählt eine ganze Liste von gängigen Stereotypen auf, die über Bisexuelle vorherrschen: Bi’s seien alle unzuverlässige Liebhaber, die dauernd ihre Partner wechseln, sie seien Homos auf der Suche nach dem neuesten Kick oder Heteros, die sich ihr Schwulsein nicht eingestehen wollen. Kurzum: Bisexualität sei demnach "entweder eine Phase, ein Vorwand oder eine Charakterschwäche."

Eine andere Herausforderung, vor der Bisexuelle stehen, ist die Frustration, ständig mit versteckt lebenden Bi’s konfrontiert zu sein - sowohl in heterosexuellen wie auch in schwul/lesbischen Zusammenhängen. "Wenn ich jemanden beobachte, von dem ich weiß, daß er bi lebt, und der dann bei irgendeiner Gelegenheit damit prahlt, wie stolz er darauf ist, schwul oder lesbisch zu sein, dann möchte ich denen am liebsten ins Gesicht schreien: Wenn Du so stolz auf das bist, was Du bist, warum gibst Du dann nicht zu, daß Du bi bist?", sagt Melissa Merry aus Chicago. "Trotz aller Offenheit sind derartige verkappte Bi’s Trittbrettfahrer. Sie sagen nicht, was und wer sie wirklich sind."

Warum kommt es zu dieser Art von Versteckspiel? Die lesbische Soziologin und Herausgeberin des Magazins "Out/Look" Arlene Stein glaubt, daß viele Bisexuelle, die von anderen als Schwule oder Lesben wahrgenommen werden, an dieser Tä uschung festhalten, weil es keine sichtbare Bi-«Community» gibt. "Die Leute klammern sich an eine Identität, um sich selbst zu verstehen, um zu wissen, wo sie hingehören, wer ihre Freunde sind, was ihre Kultur ist," meint Stein. " Für die meisten Menschen ist Bisexualität - im Gegensatz zu Homosexualität - nur eine sexuelle Identität, und sie möchten nicht ausschließlich über ihre Sexualität definiert werden. Eine schwule und lesbische Kultu r existiert, aber keine für Bisexuelle."

Nur, wenn Menschen sich nicht trauen, offen als bisexuell aufzutreten, wie soll sich dann eine bisexuelle Kultur entwickeln? Dr.Elias Farajaje-Jones, Professor an der Howard-Universität in Washington und Mitbegründer einer politischen Aktions gruppe namens «Allianz multikultureller Bisexueller», glaubt, daß der Schlüssel hierfür bei denjenigen Bisexuellen liegt, die den Schritt an die Öffentlichkeit bereits getan haben. "Je sichtbarer wir in der Öffentlichkeit we rden, desto mehr Menschen werden sich ebenfalls raustrauen," sagt Farajaje-Jones, der sich selbst als "bekehrter Bi-Phober" (in Anlehnung an Homophobie = Angst vor Homosexualität) bezeichnet. Er fügt hinzu: "Nach dem Marsch a uf Washington, glaube ich, wird es für viele Leute einfacher."

 


Zwischen Illusion und Wirklichkeit

Fragmentarisches aus dem Leben eines bisexuellen Familienvaters

 

Beim Aufwachen denke ich an - IHN. Ein erregender Schauer geht dabei durch meinen Körper - buchstäblich vom Kopf bis in die Zehenspitzen. Ein Augenschlag nur, ich gönne ihn mir.

Dann schalte ich um, beantworte erste Fragen meiner Frau, erwache in unsere Wirklichkeit hinein. Wuschel meinem Sohn über seine Schlafmähne, sehe meine schlaftrunkene Tochter, gehe ins Bad und nehme IHN noch eine kurze Zeit mit. Beim Blick in den Spiegel sehe ich meine Nacktheit, weiß, was ER gerne sieht, fühlt und was IHM schmeckt - kurze Erregung flackert in mir auf.

Ende, Ende, Ende — bis heute Abend ist noch soviel Zeit.

Ach ja, du bist ja heute Abend nicht da!! - Die Kehrseite meiner Träumereien. - Du weißt doch, daß ich heute abend bei IHM bin, es war doch lange abgemacht!! - Die Verteidigung der Wirklichkeit: Ich bin ein Mann mit Verlangen nach eine m Mann, du weißt es.

 

Heute plaudern wir nicht belanglos beim Frühstück, es wird über Termine geredet, wir beide sind unbeweglich. Die Kinder plaudern fröhlich und nehmen das Ringen von Illusion und Wirklichkeit nicht wahr. Es erleichtert mich ein wenig, nimmt mir ein wenig von meinem Gedrücktsein. Aber es ist doch nicht so wie verabredet, es lastet zwischen uns. Ich spüre meiner Aufwachstimmung nach, nichts ist von ihr mehr da - aber ich fahre heute abend zu IHM. Es war so verabredet.

Während der Fahrt zur Arbeit flackert es in mir. Ich kann nicht davon ablassen, an heute abend zu denken. Was will ich nur von IHM? Es ist nicht nur Sex - das auch, nur daran zu denken, erregt mich. Er ist fürsorglich zu mir, denkt an Kleinig keiten, die mich fast sprachlos machen, erzeugt in mir Stimmungen, die ich noch kannte, als ich ganz frisch in meine Frau verliebt war, ER stellt keine Fragen, ist nur da. - Kurze Gedankenmomente zwischen Musik und Nachrichten im Berufsverkehr. - Die Wirk lichkeit des Berufslebens und die Stunden in meiner Familie erlebe ich heute als Überbrückung zur Illusion, als könnte eine zweite Wirklichkeit da sein. Das Nachhausekommen ist diesmal anders, wie provisorisch. Der späte Nachmittag und der Anfang des Abends unterscheiden sich nicht von den anderen Zeiten.

Doch die Gespräche zwischen meiner Frau und mir scheinen wie Rituale. Unsere Gedanken kreisen um heute abend: Sie mit ihren Phantasien und ich mit meinen Hoffnungen und meinem Begehren, und wir wissen, daß unsere Gedanken nicht überein stimmen (können), als ob Welten zwischen uns existierten. Dabei hatten wir uns vor Tagen zum wiederholten Mal unterhalten, wieder über meine Bisexualität: WAS KRIEGST DU VON IHM, DAS ICH DIR NICHT AUCH GEBEN KÖNNTE?

Ich fahre zu IHM wie in eine Nische, genieße, was ich sonst im Alltag nicht genießen kann, nur manchmal schnuppern, ohne mich in Illusionen zu verlieren: Der Blick dieses Mannes dort ist tief und sanft, aber er meint etwas anderes, ich will ihn nicht fragen. SEINE Blicke sind tief und sanft. SEINEM Begehren kann ich mir sicher sein, es aufnehmen und nachspüren, manchmal ein wenig damit spielen. Auch zwischen IHM und mir leben stumme Fragen mit - an die «erste» Wirklichkeit - es geht um Perspektiven - ER will heraus aus seinem Nischen- und Schattendasein. ES IST DOCH NUR EINE ILLUSION, DIE WIR LEBEN. Wir verkürzen unser Zusammensein auf ein paar Stunden in der Woche, alle unsere Wünsche aneinander, unser Begehren verdichtet si ch auf ein paar Momente. Ich genieße unser Zusammensein noch für ein paar Minuten. Minuten des Abschieds - Minuten, die uns dem absehbaren (?) Ende unserer Beziehung/Freundschaft/ Leidenschaft/ Verliebtheit wieder ein kleines Stück nä herbringen - ER stellt keine Fragen, aber ich spüre die Rebellion gegen SEIN Schattendasein, als wollte sie sich bald gegen mich stellen - Kleine Bemerkungen, krumme Vergleiche, sanfte Drohungen.

Wir verabreden uns auf bald.

 

Die Rückfahrt zu später Nachtzeit verstärkt in mir die Illusion des Glücks, ich entwickle eine Sucht nach ihr, freue mich auf das nächste Mal.Vertraut und verschlafen winkt mir das Haus mit den jetzt dunklen Fenstern zu, in dem meine Frau und meine Kinder schlafen. Ein Gefühl wie schlechtes Gewissen regt sich kaum spürbar in mir: DU WEISST DOCH BESCHEID und ES WAR DOCH VERABREDET. Ich gleite neben meine Frau ins Bett. Ob ER schon schläft, ER muß morgen fr&u uml;h aufstehen und hat trotzdem die Nacht mit mir verbracht.

Der Morgen schaut mir trübe ins Gesicht. Das Frühstück wird von Hektik unterbrochen, wir müssen bald losfahren. Meine Frau und ich sprechen Termine ab. BIS HEUTE ABEND! LASS UNS DOCH WAS UNTERNEHMEN! MIT DEN KINDERN IST ES SCHON ABG ESPROCHEN! Appelle an mich. Das gestern abend ... war das wirklich da?

 

Hans

 


Bisexualität auf bairisch

Die Münchener Bi-Gruppe stellt sich vor

 

In München gibt's ein Hofbräuhaus, eine Staatsregierung, die Bavaria, die Wies'n und eine Bisexuellen-Gruppe.

Das kam so:

An einem Abend im Mai '92 haben sich eine Frau und zwei Männer zusammengefunden, um in einer langen Konferenz eine Anzeige für die Münchener Kulturmagazine zu formulieren. Der Text des Inserates sollte das Anliegen der drei Leute wieder geben ohne jedoch wie ein bisexueller Kontaktmarkt zu klingen. Ein offizieller Treffpunkt ergab sich dadurch, daß in dem Münchener Zentrum für schwule Männer (das «Sub») sich seit einiger Zeit die Anfragen nach einer Bisexuellen-Grupp e häuften. Das Sub ist eine Einrichtung, der neben einem Beratungs- und Infodienst auch diverse Schwulen- und Lesbengruppen angeschlossen sind.

Im Laufe der Zeit hat sich also auch in München eine Gruppe etabliert, in der bisexuelle Frauen und Männer sich einen eigenen Lebensraum schaffen und das in die Tat umzusetzen versuchen, was sie unter Bi-Kultur verstehen.

Am Abend des 12.6.1992 fanden sich infolge dieses Inserates 25 Leute im Sub ein. Natürlich war alles ganz furchtbar aufregend, und vor dem Erfolg des Unternehmens hatten wir genausoviel Bammel wie vor dem möglichen Mißerfolg. Im Laufe d er Stunden stieg jedoch nicht nur der Wärmepegel der Luft sondern auch der Stimmung. Am Ende kamen beinahe alle zu dem Schluß, der Abend sei ein guter Anfang gewesen. Dieses denkwürdige erste Treffen hat dazu beigetragen, daß sich se hr rasch ein harter Kern gebildet hat, der lange Zeit fast unverändert bestand. Die Äußerlichkeiten waren schnell geklärt, und so finden wir uns bis heute an jedem ersten und dritten Montag des Monats in den Räumen des Sub ein.

Jaja, die Hochs und Tiefs . . .

Ein wichtiger Konsens bestimmte von Anfang an den Umgang miteinander, bzw. die Themenwahl: Wir verstehen uns nicht als psychologische Selbsthilfegruppe. Wir wollen vielmehr einen Teil unserer Freizeit miteinander verbringen und das Thema Bisexualit&aum l;t ist so eine Art tragendes Element.

Nun ja, man kommt sich näher . . . Das heißt, im Laufe der Zeit bildeten sich über den Gruppenrahmen hinaus Freundschaften oder auch Liebesbeziehungen, die dann wieder rückwirken auf die Stimmung bei den Treffen. Es ist nicht einfa ch, das zu akzeptieren. Es entstehen dadurch bisweilen komplizierte Situationen, in denen viel «zwischen den Zeilen» passiert. Es ist notwendig, die Gruppe selbst zum Thema zu machen, denn auch die unterschwelligen Einflüsse und Bedürfnisse m&uu ml;ssen angesprochen werden.

 

Und so hat sich diese Gemeinschaft in ihren zwei Lebensjahren stark verändert. Ein großer Teil «der ersten Stunde» hat sich aus ganz unterschiedlichen Gründen zurückgezogen, während neue Leute dazugekommen sind. Natürlich kommen auch wir nicht an den unausweichlichen Sinnkrisen im Leben einer Selbsterfahrungsgruppe vorbei. Glücklicherweise waren jedoch bisher immer Leute da, die dabeigeblieben sind, sich den Schwierigkeiten gestellt haben und mit der Zeit den entsche idenden Antrieb zum Weitermachen gegeben haben.

Mittlerweile entwickeln sich wieder sehr gute Gespräche. Ich genieße meinen wachsenden Mut, mich auf die anderen einzulassen. Wir alle haben einiges gelernt im Umgang miteinander. Da muß Raum sein für Unsicherheiten und mitunter a uch für Konflikte; und wenn Behutsamkeit, Respekt, Ehrlichkeit und Bedürfnisse ausgewogen sind, dann kann es eigentlich immer so weitergehen ...

 

Heiner

 


Von einem Gummibären, der Sylvester auszog, sich in Aichach aus der Tüte zu befreien

Eine ermutigende Einbettung

 

Sylvester 93/94, Bremen

Das Mitternachtsgeknalle guckten Bodo und ich uns dieses Mal vom 1. Stock des «Lagerhauses» aus an. Na ja, ein bißchen langweilig, Bodo war aber auch so verschneckt. Im Disco-Saal mußte ich immer wieder diese Frau mit der smarten Brille angucken. Sie konnte still und spitzbübisch grinsen. Guckte sie nun nach innen oder zurück? Mir wurde mulmig. "Hach Bodo, ich bin so aufgeregt!" Tanzen, ich hatte doch Lust zu tanzen - vielleicht reagiert sie ja auf mich? Mist, jetzt baggert sie beim Tanzen doch tatsächlich die Frau in Grün an, puuh - ist das aufregend. So ein langsamer Song ertönt. Ich steh’ an der Säule und kann mich ja schlecht selbst umarmen. Da fällt ihr Blick auf mich, sie kommt mit eine m wundervollen Blick vom anderen Ende der Tanzfläche mit ausgestreckter Hand auf mich zu: "Manchmal brauch ich einfach 'n Mann zum Tanzen."

 

1. Januar 94, 5.00 Uhr

Diese Scheißlederhose. Hab’ ich beim Tanzen geschwitzt! Und meine Füße! Hat die Frau ‘ne Kondition gehabt! Aber besoffen vor Glück, von Bier und Sekt ziehe ich durch die Straßen. Gott sei Dank hab’ ich ihr beim zweiten A bschied meine Adressen gegeben - gut, daß mir das überhaupt noch einfiel! Wo steckt bloß Bodo? Ich muß ihn jetzt sehen. Aufgedreht suche ich ihn noch im «Manhattan», aber da sehe ich nur das Übliche, Reste einer schlechten Trav estieshow und ein paar matte Ledersalinos im Dunkeln. Noch ein bißchen Tresenträumen, das geht immer. Bodo liegt schon im Bett, alleine. Ich robbe mich auf mein Schlafgemach daneben und seufze selig. Ob die Welt wieder komplett wird?

 

Januar 94, Göttingen

Neuerdings liege ich vor Aufregung bis morgens um 6.00 Uhr wach. Sybille hat sich gemeldet. In den Telefonaten mit Bodo bin ich immer ganz aufgewühlt. Viel Zeit verbringe ich in ausgesuchten Postkartenläden. Mein erster vergeblicher Anla uf, Sybille zu schreiben, kostet mich 5 Postkarten. Jetzt hab’ ich keine mehr. Also werden sie zerschnitten und als Collage abgeschickt, paßt auch besser zu mir. Außerdem ist am letzten Februarwochenende ein Bi-Treffen. Ich freu’ mich so und t rotzdem führen Hirn und Herz einen Steptanz auf. Auch wenn ich darüber spreche, wird’s nicht besser. Behutsame Gesprächsinitiativen lösen richtige Lawinen im Freundeskreis aus. Wußte gar nicht, daß Ulla, die mit Karl verhei ratet ist, genauso in ihre Freundin verliebt ist. Und Martha, die Freundin von Jimmy, seufzt immer in der Kneipe, weil ihr die süße Thekenfrau schon seit Jahren entgeht. Und sie sind es, die ganz aufgeregt sind, daß ich zum Bi-Treffen fah re. Sexuelle Phantasien liegen mir wie Sandsäcke auf der Brust und wechseln mit Bildern eines kläglichen Wichts. Zermürbende Encountermarathons male ich mir genauso aus wie dogmatische Endlosdebatten. Und doch geht mir ein Seufzer der Erlei chterung durch die Brust: Vielleicht darf ich an dem Wochenende einfach mal Amateur sein? Bodo schmunzelt aus der Ferne - er findet mich mutig und macht mir Mut. Er ist ein bißchen stolz auf mich, weil ich etwas wage, was er noch nicht hinkriegt. Mi t Sybille habe ich einen regen Briefwechsel. Sie will mich besuchen - am letzten Februarwochenende. Ich hab’ keine Zeit, es ist Bi-Treffen in Aichach.

 

Aichach, 25.- 27.2.94

Anreise

In Augsburg muß ich in den Eilzug nach Aichach umsteigen. Bin ganz durcheinander und verstehe plötzlich den bayrischen Dialekt überhaupt nicht mehr. Ich muß permanent nachfragen und die Gleisänderung kriege ich erst in al lerletzter Minute mit. Im Eilzug beobachte ich vorsichtig, ob ich Mitgefährten ausmachen kann. Wer könnte auf so ein Treffen fahren? Die fingernägelfressende Frau steigt bereits vor Aichach aus. Ich wiege mich in meine Amateurphantasie ein. Ja, so einer darf auch mal schweigen, viel fragen, zugucken, sich ansprechen lassen, Pausen machen. Als Rolle vielleicht am Bekömmlichsten? Wenn man darf.

 

Ankunft

Es gibt wohl nichts Peinlicheres für mich, als auf andere zu stoßen, die sich vertraut sind. Es gibt im Tagungshaus kein Ritual, das mir helfen könnte. Platsch, da bin ich - und es ist leider genauso wie sonst, wenn man irgendwo als Fremder ankommt. Aber es ist eine gemütliche Kachelofengaststube und ich bin in Bayern. Und ein Amateur darf sich in den Stuhl setzen und suchend herumgucken. Eigentlich ist es auch ein bißchen wie der Beginn eines Skiurlaubs. Die Engagierten mit Blicken streifen, die Organisatoren ansprechen und sich zu denen gesellen, die auch vorsichtig in der Ecke sitzen. Und was hab’ ich schon für traumhafte Skiurlaube verbracht, die so anfingen.

Wir stellen uns später in einer Runde im Saal vor. Ich bin richtig neugierig, wenn mich die Runde auch beklommen macht. Es sind so viele da! Aber ein Amateur darf sich ja auch beklommen fühlen. Hatt’ ich fast vergessen. Meine Vorstellung f&au ml;llt kurz aus. Das Medium, mit dem ich mich identifiziere und präsentiere ist eine Menge von Gummibären. 4 Tüten - ob das reicht?

 

Ankommen

Noch am Freitag wird mit Profis und anderen «Amateuren» vieles möglich. Sich am «Tabubrecher» zu erfreuen, der vieles ausspricht, was man selber erstmal nur denkt. Als «Trittbrettfahrer» auf Gespräche aufzuspringen, Zuhörgewandte zu erleben, mit denen sich vertrauensvoll sprechen läßt, «Aktionisten» zuzugucken, die augenscheinlich verschiedenen Wünschen freien Lauf lassen. Ich bin verdutzt: "Wieso hast du eigentlich jemals daran gedacht, daß du außerh alb einer Konvention stehst?" Hier ja nicht. Gegen Abend tue ich das, was ich auch sonst gerne tue: T-Musik einlegen und mit anderen kräftig rumfetzen.

 

Dranbleiben

Das Wiedererkennen setzt sich am Samstag fort. Nachhaltig bleibt mir die Gesprächsgruppe in Erinnerung. Genug geguckt und gespürt - in diesem Kreis rückt mir die Gruppe näher, als wir unsere Themen am konkreten Lebensbeispiel de monstrieren. Ich erlebe eine deutliche Brisanz, plastisch wird mir die individuelle Lebenssituation - auch mit ihrer speziellen Bemühung - vorgestellt. Da breitet sich ein ganzer Fächer aus, in dem auch weniger strahlende Farben ihren Platz habe n. Nachdem ich so meine «Denkfühler» nach anderen ausgestreckt hatte, konnte ich nun wieder gut ein Päuschen gebrauchen.

 

Pause machen

Als Amateur muß man solche intimen Begegnungen wohl erstmal gründlich verdauen. In einer Art "stop and go" krieche ich durch den Rest des Samstags. Das hat unbedingt den Vorteil, daß ich keine Pickel kriegen muß (ec ht!) und die Bodenhaftung will ich ja auch nicht verlieren. Sei es nun mit mir oder den anderen - und ein bißchen Brückenschlagen zwischen Alltag und Aichach kann auch nicht schaden. So spiele ich nachmittags lieber Theater (wir proben für die aichacher Uraufführung des bisexualisierten «Froschkönigs») und tauche später gelegentlich in das Gruppengeschehen wieder ein. Ich war ganz erleichtert, daß es keinen kollektiven «jet-stream» gab, der den Amateur zur Gruppensau e rklären würde. Ganz im Gegenteil, «immer mal wieder» rolle ich problemlos an das eine oder andere Gestade heran. Um im Bild zu bleiben: Es waren verlockende Gestade dabei, die ich auch mal Lust hätte, stürmischer zu überfluten.

 

Abschiedszauber

So sitze ich am Sonntag schrecklich zufrieden in der Sonne. Da wurde einem doch richtig Lust gemacht wiederzukommen. Als ich dem Abschlußknutschen versonnen nachsinne, steigen die Bilder vom gemeinsamen Wochenende hoch. Es tut gut, daß es sie alle gibt. Diesen ganzen Haufen. Einige sind mir richtig ein bißchen an’s Herz gewachsen (ich hab’s aber nicht so richtig gesagt), andere beobachte ich weiter verstohlen (was einen eher heimlichen Prickel in mir auslöst). Und ich hatte e ndlich mal ein richtiger Amateur sein dürfen: "Hat gar nich’ wehgetan !". Sie haben’s mir alle leicht gemacht. Verschämt stelle ich fest, daß ich einen richtigen Appetit auf diese Bi-Bär/inn/en entwickle.

Zuhause, Göttingen

Booah! Und jetzt auch noch zwei Briefe, einer von Bodo und einer von Sybille. Bodo schreibt:

 

"Mein lieber Carsten!

(...) Unser Telefonat am Donnerstag führte zu einer mächtigen Traumphase: Kaum Handlung, aber viel Gefühl...Also: Ich halte den kleinen Bodo (halb bin ichs selbst, halb ist es mein Sohn) umarmt und ich könnte vor Liebe schier zerber sten, denn er ist irgendwie was ganz Besonderes. Sein bester Freund ist der kleine Carsten, und der will mit dem großen Carsten eine Schiffsreise machen (auf dem Wasser, dem Gefühl). Die kleinen sollen sich aber nicht voneinander verabschieden, weil sie das noch gar nicht aushalten würden - und außerdem könnten sie dabei ins Wasser fallen...(...)."

 

Ich werde Bodo vorschlagen, die nächste Schiffsreise gemeinsam zu erleben. Ich muß ihm berichten, wie warm das Wasser da ist.

 

Carsten

 


 37,2 ° am Wochenende

Jedesmal wenn Heiner in der Münchener Gruppe von Bi-Treffen berichtete, versuchte er verzweifelt jene besondere Atmosphäre dieser Wochenenden mit Worten einzufangen, bis irgendwann resigniert der Satz kam, man mü& szlig;te es einfach erfahren. Wie wahr! Eine solch intensive Wärme und Nähe erlebe und genieße ich selten woanders. Allerdings kann die Stimmung auch kippen. Es gibt Zeiten, in denen mich solch eine Grenzenlosigkeit überfordert, denn zum einen ist es nicht leicht, sich auf diese Nähe und Wärme einzulassen und zum anderen ist es nicht in jeder Verfassung möglich oder gewünscht.

Diese Atmosphäre nicht genießen zu können, bedeutet aber zugleich das Gefühl, nicht teilhaben zu können. Welche Empfindung ist schmerzhafter, sich überfahren oder sich ausgeschlossen zu fühlen - egal ob aus freiwilli ger Entscheidung oder aus Unvermögen.

Steht man eifersüchtig als stiller Beobachter am Rande, vielleicht sogar wütend auf sich selbst, weil man die unsichtbaren Grenzen, die einem spürbar gesetzt sind am liebsten ignorieren würde, weil man die Unmöglichkeit fü hlt, das mitzuempfinden, was den meisten scheinbar so leicht fällt.

Genießen es alle oder gelingt manchen der Sprung über den eigenen Schatten einfach eher, indem sie sich leichter von dieser Dynamik mitreißen lassen? Denn daß die aufgebaute Nähe auch überfordert, ist im nachhinein imme r wieder von einigen zu erfahren.

Was macht man nun mit dem Gefühl oder der Erkenntnis,

 

daß man nicht jeden umarmen will, aber zugleich diesem Druck ausgesetzt ist, weil es fast üblich ist, sich in den Armen zu liegen

 

daß es einem zu viel wird, weil man für körperliche Nähe vielleicht mehr Vertrauen oder mehr Zeit braucht

 

daß man Angst hat, anderen zu nahe zu treten, weil man die Erfahrung selbst gemacht hat.

 

Bewunderung verdienen auf jeden Fall diejenigen, die wahrhaftig sind und den Mut aufbringen, ihr eigenes Tempo zu suchen und zu finden, ohne sich selbst zu überholen.

 

Bärbel